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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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drückte einige Kaffeebonbons aus der Packung. Anstatt sie zu lutschen, spülte er sie mit einem Energydrink hinunter.
    Das unbekannte Video war in Schwarzweiß. Es zeigte eine hügelige Landschaft mit Wäldern und Weinstöcken, jedoch ohne Straßen. Die Kamera wurde geschwenkt. Sie erfaßte eine Frauengestalt. Zoomte heran. Näher und näher kam das Gesicht.
    Etwas in seinem Gehirn weigerte sich zu verstehen. Deshalb dauerte es einige Sekunden, bis er die Tragweite dessen, was er sah, begriff. Mit einem Satz stand er aufrecht auf dem Sofa, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet.
    Die Frau auf dem Bildschirm war seine Mutter.
    Die Kamera verharrte einige Sekunden auf dem Gesicht, dann wurde sie nach links geschwenkt und auf eine andere Person gerichtet.
    Seine Großmutter.
    Stumm bewegte sie die Lippen, als spreche sie zu ihm. Als sei der Weg, den die Worte zurücklegen mußten, zu weit.
    Er riß die Verbindungskabel zum Fernseher aus der Kamera. Als er zwischen dem Toyota und der Kawasaki hindurch zur Rampe stürmte, schlitzte er sich an einer Metallkante den Arm auf. Er spürte nur ein kurzes Brennen. Mit spitzen Fingern schleuderte er die Kamera weit in das Maisfeld neben der Straße.
    Von einem Fuß auf den anderen tretend, sah er zu, wie sich die Heckklappe quälend langsam schloß. Er hakte den Riegel ein, dann sprang er ins Führerhaus.
    Er fuhr, als habe er in sich einen Autopiloten eingeschaltet. Sein Geist war nicht verfügbar. Ab und zu registrierte er etwas von der Außenwelt. Er nahm abrupte Wechsel der Wetterverhältnisse wahr, doch sie berührten ihn nicht, sie waren wie etwas, das er im Fernsehen sah. Er las Ortsnamen. Reims. St. Quentin. Arras. Sie sagten ihm nichts. Erst der veränderte Geruch ließ ihn zurückkehren. Die Luft war schwer und salzig. Er war bald am Meer.
    Es war, als würde ihn diese Erkenntnis aufmuntern und ihm in Erinnerung rufen, warum er hier war. Das Video hatte er in den untersten Bereich seines Bewußtseins verbannt. Er merkte, daß er Hunger hatte. Weil er nicht wußte, ob hier noch eine Raststation kam, hielt er am Pannenstreifen, wo ihm hoch aufragende Trauerweiden Schatten spendeten. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war brütend heiß.
    Während er auf dem Sofa seine Armwunde verband, betrachtete er kopfschüttelnd die Verwüstung, die sein überstürzter Aufbruch angerichtet hatte. Die Butter lag auf dem Boden, ebenso die Schüssel mit dem Kompott. Auf der Sitzgarnitur waren Pfirsichspalten verteilt. Am schlimmsten hatte den Polstermöbeln der Kaffee zugesetzt. Jonas putzte und rubbelte. Danach warf er den Gaskocher an und wärmte sich zwei Konservendosen.
    Wie gewohnt kehrte nach dem Essen die Müdigkeit zurück. Es war ein Uhr, er konnte sich kein Nickerchen leisten.
    Am Straßenrand spülte er mit Mineralwasser Topf und Teller aus. Die leeren Dosen warf er in den Graben. Er saß schon im Führerhaus, da schlug er gegen das Lenkrad, kletterte wieder auf die Straße und hob die Dosen auf. Für einstweilen schob er sie unter den Toyota.
    Er nahm die nächste Ausfahrt. Von da an fuhr er nach der Karte. Sie war aktuell und detailgenau, und er hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Um zwei Uhr nachmittags hielt er nahe der Stelle, an der der Kanaltunnel aufklaffte.
    An Calais, das er gern einmal besucht hätte, verschwendete er keinen Gedanken. Er konnte es sich nicht vorstellen, jetzt durch größere Städte zu fahren. Möglichst wenige Häuser, möglichst wenig, das groß war und ihn bedrängte, das wünschte er sich.
    Sogleich begann er mit den Vorbereitungen. Die DS rollte er auf den nicht asphaltierten Weg, der am Zaun, der die Bahntrasse abgrenzte, entlangführte. Mit Brecheisen und Drahtschere machte er sich auf die Suche nach einem Zugang. Er fand ihn nach wenigen hundert Metern. Eine Tür im Zaun, die Bahnarbeitern dazu gedient hatte, Arbeitsmaterial anzuliefern, und sie stand offen. Er brachte Eisen und Schere zurück zum Lkw.
    Er ging mit sich zu Rate, was in den Rucksack gehörte. Essen und Trinken auf alle Fälle, dazu Munition für das Gewehr. Eine Taschenlampe, Streichhölzer, ein Messer, eine Schnur. Aber zählten ein Regenmantel und ein zweites Paar Schuhe zur unbedingt nötigen Ausstattung? Wichtiger waren Straßenkarten und Verbandmaterial. Und sollte er noch einen Benzinkanister mitnehmen, oder war er überzeugt, auf der anderen Seite bald ein neues Gefährt zu finden?
    Als er den Rucksack zuband, zeigte die Uhr halb vier. Er setzte

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