Die Arbeit der Nacht
an sein Zuhause in diesem Moment.
Wenn es ihm früher schlecht gegangen war, in Zeiten persönlichen Unglücks oder beruflicher Unzufriedenheit, hatte er sich in die Ferne geträumt. Von der er in den vergangenen Wochen so wenig wie möglich hatte wissen wollen. Ferne bedeutete Kontrollverlust. Und wenn man ohnehin das Gefühl hatte, daß einem alles entglitt, stürzte man sich nicht in Abenteuer.
Wie er gerade.
Er war ja verrückt, vollkommen übergeschnappt. Taumelte durch absolute Finsternis. Was hatte –
Antarktis denken .
Er sah vereiste Berge, blau und weiß. Das Eis, durch das er seinen Rucksack schleppte, war weiß, endlos weiß. Über ihm war der Himmel blau.
Einmal hatte er in einer TV-Dokumentation gesehen, wie Forscher in der Antarktis einen Eiszylinder aus einem Kilometer Tiefe bohrten. Das Stück Eis, das sie zutage förderten, sollte ihnen helfen, den Klimawandel verstehen zu lernen. Von dieser Aussicht war Jonas weniger fasziniert gewesen als von dem Zylinder selbst.
Ein Stück Eis, einen halben Meter lang, zehn Zentimeter im Durchmesser. Bis vor einigen Minuten noch unter Millionen Kubikmetern Eis begraben. Zum erstenmal seit – ja, seit wann? – seit hunderttausend Jahren am Licht. Vor einiger Ewigkeit war dieses Wasser gefroren, und dann hatte es sich nach und nach aus dieser Welt verabschiedet. Fünf Zentimeter Tiefe. Fünfzig. Zwei Meter. Zehn. Und welch lange Zeit bereits vergangen war zwischen dem Tag, an dem es die Oberfläche verlassen hatte, und jenem, an dem es in zehn Metern Tiefe ankam. Eine Zeitspanne, die er sich nicht vorstellen konnte. Aber ein Fingerschnippen gegen die Zeit zwischen zehn Metern und einem Kilometer.
Jetzt war es da. Dieses Stück Eis. Sah wieder die Sonne.
Guten Tag, Sonne. Hier bin ich wieder. Was hast du erlebt?
Was ging in ihm vor? Verstand es, was passierte? Freute es sich? War es bekümmert? Dachte es an die Zeit, in der es nach unten gegangen war? Verglich es die Zeiten?
Er hatte an das Eis denken müssen, das noch unten lag. Die direkten Nachbarn des emporgeholten Stücks. Vermißten sie es? Fühlten sie Neid, bedauerten sie es? Und er hatte an das andere Eis denken müssen, in zwei Kilometern Tiefe, in drei. Wie es dorthin gekommen war. Ob es wiederkehren würde, wann, und wie es zu diesem Zeitpunkt auf der Erde aussehen würde. Was es dachte und fühlte, unten, im Dunkeln.
Er meinte, ein Geräusch wahrzunehmen. Wasserrauschen.
Er blieb stehen. Er täuschte sich nicht. Vor ihm rauschte Wasser.
Er wandte sich um und rannte. Er stolperte, fiel hin, Schmerz zuckte in seinem Knie auf.
Wie er so dalag, meinte er zu spüren, daß sich die Schienen sanft nach unten neigten. Gleich darauf war ihm, als sei es umgekehrt. Er stand auf und machte einige Schritte. Ob es bergauf oder bergab ging, war auf diese Weise nicht zu erkennen. In der einen Sekunde neigte sich der Weg, in der nächsten stieg er an. Doch Jonas bemerkte, daß die Schritte in die ursprüngliche Richtung mehr anstrengten.
Er ging weiter. Das Rauschen nahm an Lautstärke zu. Er lief. Unter seinen Füßen spritzte Wasser auf. Das Rauschen schwoll mehr und mehr an. Donner erklang. Sekunden darauf stand Jonas im Freien.
Es war Nacht. Über ihm zuckten Blitze, auf die im nächsten Moment wildes Grollen folgte. Regen prasselte wuchtig auf seinen Kopf. Der Wind kam in so harten Böen, daß sie Jonas beinahe umrissen. Nirgends brannte Licht.
Trotz des Unwetters beeilte er sich, die Bahntrasse zu verlassen. Nach einer Weile fand er im Zaun ein offenes Tor. Er lief nach links, wo er am ehesten Häuser erwartete. Er hätte genausogut die entgegengesetzte Richtung wählen können, es war stockdunkel, er hatte keine Ahnung, wohin er sich bewegte. Er hoffte, daß er nicht geradewegs ins Meer stürzte, dessen Brandung er zwischen den Donnern zu hören meinte.
Er lief über eine Wiese mit hohem Gras. Einige Meter neben sich sah er etwas glitzern. Es war ein Motorrad. Daneben fuhr der Wind in die Wände eines Zelts.
Im Vorzelt stieg Jonas auf nasse Rucksäcke, trampelte über Schuhe, stieß sich den Fuß an einem Stein, der eine Matte beschwerte. Weil seine Finger vor Kälte und Erschöpfung zitterten, dauerte es eine Weile, bis er den Reißverschluß zum Zelteingang aufgezogen hatte. Er kroch hinein, schloß jedoch, um hinausschauen zu können, nur den Verschluß des Moskitonetzes.
Mit der Hand tastete er umher. Er faßte einen Schlafsack. Ein kleines Kissen. Einen Wecker. Noch einen Schlafsack.
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