Die Arbeit der Nacht
zielte mit Pfeil und Bogen auf eine Scheibe. Kurz widmete er sich dem Automatencasino, doch Geld zu gewinnen hatte keinen Reiz.
Er betrachtete die leeren Sitzreihen des Fliegenden Teppichs. Ihm kam ein Gedanke. Er zog sein Hemd aus und knüpfte es an einem der Sitze in der riesigen Schaukel fest. Im Kassenhäuschen fand er den Regler, mit dem der Motor bedient wurde. Er schaltete auf AUTO . Heulend setzte sich der Teppich in Bewegung. Anders als sonst kreischten keine Mädchen auf, niemand außer Jonas blickte nach oben.
In der ersten Reihe flatterte das Hemd. Die flache Hand gegen die Stirn gelegt, verfolgte er mit zusammengekniffenen Augen das Schicksal des Kleidungsstücks. Nach drei Minuten hielt der Teppich an, die Sicherheitsbügel schnappten automatisch auf.
Er band das Hemd los. Er fragte sich, ob man von Aussicht sprechen konnte, wenn niemand da war, der sie bestaunte. Genügte ein Hemd, um die Aussicht zu einer solchen werden zu lassen?
Mit einer neuen Dose Bier begab er sich ins Haus der Abenteuer. Es war auf die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet. Mit dem Gewehr auf dem Rücken hatte er Mühe, sich zwischen Sandsäcken hindurchzuzwängen und pendelnde Holzbrücken zu überwinden. Er trat auf Treppen, die unter Getöse nachgaben, durchquerte abschüssige Räume, tastete sich durch lichtlose Gänge. Wenn er nicht gerade einen entsprechenden Mechanismus auslöste, war alles still. Ab und zu knarrte ein Balken unter seinem Gewicht.
Im dritten Stock angekommen, stellte er sich an die Balustrade, von der aus man den Vorplatz überschauen konnte.
Unten rührte sich nichts.
Er trank.
Durch ein Netz aus Tauen, das wie eine Wendeltreppe angelegt war, tappte er wackelnd nach unten.
Am Schießstand konnte er dem auf dem Pult liegenden Luftdruckgewehr nicht widerstehen. Beim Zielen ließ er sich Zeit. Er drückte ab, lud nach. Er zielte, drückte ab, lud wieder. Sechsmal knallte es, sechsmal folgte fast im selben Moment das satte Geräusch des Projektils beim Einschlag. Er untersuchte die Scheibe. Das Ergebnis war nicht unbefriedigend.
Er hängte eine neue Scheibe auf. Zielte. Langsam krümmte er den Finger.
Schon immer hatte er sich vorgestellt, man könne durch Langsamkeit sterben. Indem man die Ausführung einer alltäglichen Handlung zeitlich dehnte – ins »Unendliche« oder eben doch Endliche: weil man in diesem Dehnen und Ausdehnen diese Welt verließ. Ein Winken mit dem Arm, ein Schritt, ein Drehen des Kopfes, eine Geste: Verlangsamte man diese Bewegung mehr und mehr, ging, gewissermaßen von selbst, alles zu Ende.
Sein Finger krümmte sich um den Abzug. In erstaunlicher Klarheit war ihm bewußt, daß er den Druckpunkt längst erreicht haben mußte und doch nicht erreichte.
Er nahm die Pumpgun vom Rücken, lud sie durch, schoß. Ein befriedigend tiefes Krachen ertönte. Zugleich fühlte er einen Schlag gegen die Schulter.
In der Zielscheibe klaffte ein Loch, groß genug, die Faust hindurchzustecken. Daneben blinkte die Sonne durch weitere, kleinere Löcher.
Mit der Liliputbahn, deren Diesellokomotive sich einfach bedienen ließ, drehte er eine Runde durch den Prater. Der Motor schnurrte. Es roch nach Wald. Im Schatten der Bäume war es weit kühler als zwischen den Ständen des Vergnügungsparks. Er schlüpfte in sein Hemd, das er nach dessen Ausflug mit dem Fliegenden Teppich um die Hüften gebunden hatte.
Am Heustadlwasser stieg er schwankend in eines der dort angebundenen Boote. Er warf das Seil auf den Steg und stieß sich ab. Er ruderte mit kräftigen Schlägen. Als die Hütte des Bootsverleihers außer Sicht war, hob er die Hölzer ins Boot.
Er legte sich auf den Rücken. Ließ sich treiben. Über ihm blinkte die Sonne durch die Bäume.
Er schrak aus einem Alptraum auf.
Er zwinkerte in die Dunkelheit. Allmählich erkannte er Umrisse der Möbel. Er verstand, daß er zu Hause im Bett lag. Mit dem Ärmel wischte er sich über das feuchte Gesicht. Er schlug die dünne Leinendecke zurück, mit der er sich im Sommer zudeckte, und lief ins Bad. Seine Nase war verstopft, seine Kehle rauh. Er trank ein Glas Wasser.
Am Wannenrand sitzend, tastete er sich in den Traum zurück.
Er hatte von seiner Familie geträumt. Das Besondere daran war gewesen, daß alle so alt gewesen waren wie er selbst. Er hatte mit seiner Großmutter gesprochen, die bei seiner Geburt siebzig gewesen und mit achtundachtzig gestorben war: Im Traum war sie fünfunddreißig. Er hatte sie nie so gesehen, doch er wußte,
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