Die Arbeit der Nacht
den Fenstern schwebten Staubpartikel. Seine Schritte auf den steinernen Böden hallten in den weitläufigen Gebäuden wider.
Im Bemühen, Spuren zu hinterlassen, beförderte er mit einer Schubkarre Gegenstände aus der Requisite auf die Hauptbühne des Burgtheaters. Er türmte alles aufeinander, Mäntel, Statuen, Fernseher, Plastikhämmer, Fahnen, Stühle, Schwerter. Einem Kunststoffsoldaten pinnte er seine Visitenkarte wie einen Orden an die Brust.
Er besuchte jedes einzelne Ringstraßenhotel. An der Rezeption wählte er gespeicherte Nummern, rief bei Marie in England an. Er studierte das Gästebuch. Es gab Reservierungen für die Zeit nach dem 3. Juli. An der Bar schenkte er sich einen Drink ein. In der Lobby reihte er Schnapsflaschen wie Slalomstangen auf. Seine Nummer schrieb er groß auf Flipcharts, die er in den Seminarräumen fand und am Hoteleingang aufstellte.
Die Sezession umwickelte er so dicht mit schwarzem Klebeband, daß man es für ein Werk von Christo halten konnte. Mit der Dose eines Grafittomalers sprayte er Telefonnummer und Namen in grellem Gelb auf das Band.
Im Parlament löste er Alarm aus, als er mit dem Gewehr die Metalldetektorschleuse passierte. Er stellte ihn nicht ab. Im Plenarsaal des Nationalrats schoß er auf Tische und Bänke. An Rednerpult und Mikrophon sowie am Sitz des Präsidenten befestigte er je einen Zettel.
Er überprüfte das Innenministerium, die Kasernen, den ORF. Er drang bis ins Bundeskanzleramt vor, wo er am Schreibtisch des Regierungschefs einen seiner Zettel ablegte.
Mit schwarzer Farbe schrieb er in riesigen Buchstaben das Wort HILFE auf den Boden des Heldenplatzes.
Er sah in den Himmel hoch.
Seit Tagen keine Wolke.
Alles blau.
Schon am Südtiroler Platz, Hunderte Meter entfernt vom Südbahnhof, hörte er die Alarmanlagen. Er hatte an einer roten Ampel angehalten und den Motor abgestellt. Er setzte sich auf das Dach des Wagens. Das Gewehr hielt er in den Händen.
Mit dem Mobiltelefon rief er den Anschluß in seiner Wohnung an. Er ließ es lang läuten.
Er drehte sich so, daß ihm die Sonne ins Gesicht schien. Mit geschlossenen Augen überließ er sich den Strahlen. Er fühlte, wie seine Stirn, seine Nase, seine Wangen heiß wurden. Es war fast windstill.
Er rief seine eigene Handynummer an.
Besetzt.
Unberührt lagen die Scherben der zerschlagenen Schaufenster am Boden der Kassenhalle. Nichts schien sich innerhalb einer Woche verändert zu haben. Die Anzeigetafel wies keine ankommenden oder abfahrenden Züge aus. Die Alarmanlagen pumpten ihr gleichmäßiges Heulen in die Halle.
Das Gewehr im Anschlag, stieg Jonas in den Zug nach Zagreb. Sein Abteil fand er vor, wie er es verlassen hatte. Das Fenster in der Tür war zerbrochen. Die Tür konnte er nicht öffnen, noch immer hielten die Vorhangstreifen. Auf dem Bett, das er aus den Sitzen gebaut hatte, lagen die Zeitungen vom 3. Juli. Die Limonadendose stand neben der leeren Tüte Chips.
Die Luft war stickig.
Draußen regte sich nichts. Zwei Bahnsteige weiter stand ein anderer Zug. Auf den freien Schienen dazwischen lag allerhand Müll verstreut.
Nach zwei Minuten Arbeit mit dem Brecheisen stand Werners Wohnungstür offen. Im Schlafzimmer war das Bett zerwühlt, die Decke zurückgeschlagen. Im Bad lag ein Handtuch, offensichtlich benützt, vor der Duschkabine. In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr. Im Wohnzimmer fand er ein Glas mit Rückständen von Rotwein.
Wonach suchen? Er wußte nicht einmal, was er wissen wollte. Sicher, er wollte erfahren, wohin die Menschen verschwunden waren. Aber wie sollte so ein Hinweis aussehen? Konnte er ihn in einer Wohnung entdecken?
Eine Weile ging er durch die Räume. Zum erstenmal seit langem begegnete er Vertrautem. Auch wenn es nur etwas so Banales war wie der lederne Geruch von Werners Couch, berührte es ihn. Er hatte oft hier gesessen. Als alles noch in Ordnung gewesen war.
Er öffnete den Kühlschrank. Ein Stück Käse, Butter, eine Packung Haltbarmilch, Bier und Limonade. Werner hatte fast nie zu Hause gegessen. Bisweilen hatte er sich eine Pizza liefern lassen.
In einer Schublade stieß Jonas auf die Medikamente.
Er hatte etwas Wichtiges gefunden, ohne danach gesucht zu haben. Diese Medikamente in dieser Schublade bedeuteten, daß sein Freund nicht freiwillig verschwunden war. Ohne Tabletten und Spray war Werner nicht einmal in den Keller gegangen, um Wein zu holen.
Er erinnerte sich. Am Abend des 3. Juli hatte Werner ihn angerufen. Sie hatten
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