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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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an Gegensprechanlagen, ohne auf Antwort zu warten. In der Schönbrunner Straße schoß er auf Fensterscheiben.
    Überall Statuen.
    Allerorts Statuetten, Figuren, Wandschmuck mit Gesichtern.
    Nie zuvor war es ihm aufgefallen. Wohin er schaute, fast an jedem Haus entdeckte er steinerne Gestalten. Keine davon blickte ihn an. Alle jedoch hatten Gesichter. An diesem Haus ragte aus einer Erkerverkleidung ein geflügelter Hund, an jenem spielte ein fetter Knabe eine stumme Flöte. Hier starrte eine Fratze aus einer Mauer, dort predigte ein kleiner Greis mit Bart zu einem unsichtbaren Publikum. Nichts davon hatte er früher wahrgenommen.
    Er zielte auf den predigenden Alten. Sein Arm schwankte. Mit einer drohenden Handbewegung ließ er das Gewehr sinken.
    Er wollte bereits in die Wehrgasse einbiegen, da sah er das Symbol der Post. Ihm fiel auf, daß er noch kein einziges Postamt durchsucht hatte. Er hatte zwar Ansichtskarten eingeworfen, die nie in seinem Briefkasten gelandet waren. Aber sich mit einem Postamt genauer zu beschäftigen war ihm nicht in den Sinn gekommen.
    Diese Automatiktür öffnete sich nicht, als er vor den Sensor trat. Er schoß sie kaputt. Wie auch ein paar Meter weiter eine zweite, durch die er in den Kassenraum gelangte.
    Wenig Geld lag in den Kassen, gewiß nicht mehr als zehntausend Euro. Vermutlich lagerte der Hauptteil in einem Tresor, auf den er in einem Hinterzimmer stoßen würde. Doch Geld spielte für ihn keine Rolle.
    Er setzte sich an einen der breiten Sackwaggons, in denen die unsortierte Briefpost lag. Aufs Geratewohl riß er eines der Kuverts auf. Ein Geschäftsschreiben. Eine nicht bezahlte Rechnung für eine Ladung Werkstoff wurde eingemahnt.
    Der nächste Brief war privat. Die eckige Handschrift verriet eine Frau hohen Alters, die einer gewissen Hertha nach Wien schrieb. Hertha solle eifrig, aber nicht zu eifrig studieren und nicht das Leben an sich vorbeiziehen lassen. Deine Omi.
    Er betrachtete das Kuvert. Es war in Hohenems abgestempelt.
    Er schlenderte durch das Postamt. Anzeichen für einen überstürzten Aufbruch der Beamten entdeckte er nicht.
    Er durchwühlte die Taschen eines blauen Arbeitsmantels, der im Hinterzimmer an der Garderobe hing. Sie enthielten Münzen, Streichhölzer, Zigaretten, eine Packung Taschentücher, einen Kugelschreiber, einen ausgefüllten, doch nicht abgestempelten Lottoschein.
    In einer Frauenjacke daneben steckte eine Schachtel Kondome.
    In einem Aktenkoffer fand er nichts als eine unappetitlich aussehende Wurstsemmel.
    Ehe er ging, schrieb er mit seinem Plakatschreiber auf jeden Kundenschalter die Nummer seines Mobiltelefons. Er trat auf den Alarmknopf. Nichts geschah.
    Er packte einen Umzugskarton nach dem anderen. So schnell, wie er berechnet hatte, kam er jedoch nicht voran. Mit vielen Stücken, die durch seine Hände gingen, verband er Erinnerungen. Mitunter konnte er sich nur noch dunkel entsinnen, was es mit jenem Buch, jenem Hemd auf sich hatte. Er stand da, sich über das Kinn streichend, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. In der Regel half es ihm, an dem Gegenstand zu riechen. Der Duft löste tiefere Erinnerungen aus als der Anblick.
    Des weiteren hatte er wenig Geschick darin, zu verpacken und zu schlichten. Es machte ihn ungeduldig, jede Porzellantasse einzeln in Zeitungspapier wickeln zu müssen, schon weil ihm die Berührung mit Zeitungspapier seit jeher unangenehm war. Ihm verursachte das Geräusch des wetzenden Papiers Gänsehaut, so wie Marie vom Klang der Kreide auf einer Schultafel oder von klirrendem Eßbesteck gemartert worden war. Er konnte eine Zeitung zwar lesen, aber jedes andere Rascheln ließ ihn flüchten.
    Am späten Nachmittag brach er in eine benachbarte Spelunke ein. In der Kühltruhe fand er etwas zu essen. Dazu zapfte er sich Bier. Es schmeckte schal. Kaum hatte er fertig gegessen, schlurfte er zur Tür hinaus. Der Weg zurück schien ihm weiter, seine Beine waren schwer.
    Beim Betrachten der Kartons, die sich in allen Zimmern stapelten, schwand ihm endgültig die Lust, an diesem Tag noch etwas in Gang zu bringen. Immerhin war die Hälfte der Schränke und Regale ausgeräumt. Zu hetzen brauchte er nicht.
    Er legte sich ins Bett. Ringsum lagen Kleberollen, Zeitungspapier, Scheren. Unbenützte Schachteln, noch nicht auseinandergefaltet, lehnten an der Wand.
    Er schloß die Augen.
    An der Wand tickte die Uhr. Der Geruch seines Vaters lag noch immer in der Luft. Dennoch hatte er nicht mehr das wohlige

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