Die Arbeit der Nacht
konnten. Eine Woche oder einen Monat hier zu leben und dann wieder dort, wie konnte man dies auf Dauer ertragen? Er würde in der neuen Wohnung an die alte denken, und nach einem Monat wäre die neue die alte, und er würde sich in der Wohnung, in die er zurückkehrte, nicht mehr zurechtfinden. Er würde durch die Zimmer gehen und Dinge sehen, die falsch waren. Einen falschen Wecker, eine falsche Garderobe, ein falsches Telefon. Die Tasse, aus der er den Morgenkaffee trank, würde zwar ihm gehören, aber er würde dennoch an die Tasse denken müssen, die er am Vortag benützt hatte. Und wo sie sich in diesem Moment befand. In einem Geschirrschrank. Oder in einem nicht ausgeräumten Spüler.
Der Badezimmerspiegel, in dem er sich nach dem Duschen betrachtete, würde ihm nichts anderes zeigen als jener, in den er am Vortag geblickt hatte. Gleichwohl hätte er das Gefühl, etwas an diesem Bild stimme nicht.
Er könnte auf dem Balkon liegen und Zeitschriften durchblättern. Er könnte fernsehen oder Staub saugen. Er könnte etwas kochen. Er würde an das andere Zuhause denken, an den anderen Balkon, an den anderen Fernseher, an den anderen Staubsauger, an die andere Pfeffermühle im anderen Küchenschrank. Er könnte abends auf dem Sofa liegen und ein Buch lesen. Zugleich würde er an die Bücher denken, die in den Regalen des anderen Zuhauses standen. An die Buchstaben in den geschlossenen Büchern. An die Geschichten, die diese Buchstaben für denjenigen bedeuteten, der sie deuten konnte.
Und vor dem Einschlafen würde er im Bett liegen und an sein Bett im anderen Zuhause denken, und er würde sich fragen, ob er nun zu Hause einschlief oder ob er am Vortag zu Hause geschlafen hatte.
Er schloß die Videokamera an den Fernseher an. Während die Kassette zurückspulte, ließ er die Jalousien herunter, um von der untergehenden Sonne nicht geblendet zu werden. Das Zimmer lag in dämmriger Abendstimmung.
Er drückte auf Start. Den Ton drehte er auf maximale Lautstärke.
Er sah sich, wie er an der Kamera vorbeiging und ins Bett fiel. Wie üblich drehte er sich auf den Bauch. In einer anderen Lage schlief er nicht ein.
Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe genügte, um alles gut erkennen zu lassen. Mit geschlossenen Augen lag der Schläfer da. Er atmete tief und regelmäßig.
Jonas gehörte nicht zu den Menschen, die öfter als zweimal täglich in den Spiegel schauten. Doch er kannte sein Äußeres, er hatte eine vage Vorstellung von dem Ausdruck, der für gewöhnlich auf seinem Gesicht lag. Aber sich zu betrachten, wenn alle Züge entspannt waren, machte ihn ein wenig nervös.
Er zog das Handy aus der Gesäßtasche und legte es auf den Tisch, um sich nicht wieder selbst anzurufen. Er blickte auf das Display. Ausnahmsweise hatte er daran gedacht, die Tastatursperre zu aktivieren.
Nach einigen Minuten wandte der Schläfer das Gesicht von der Kamera ab. Den Kopf vergrub er unter dem Kissen. Dabei war ein Rascheln zu hören. Eine Weile später tauchte er wieder auf. Er drehte sich auf die Seite. Kurz darauf legte er sich auf den Rücken. Er wischte sich mit der Hand über die Augen.
Dann und wann stoppte Jonas das Band und horchte in Richtung Tür. Er ging durchs Zimmer, schlenkerte mit den Armen. Goß sich ein Glas Wasser ein. Es kostete ihn Überwindung, zu der Aufnahme zurückzukehren.
Zwölf Minuten vor Ende des Bandes wälzte sich der Schläfer wieder herum, so daß er das Gesicht der Kamera zukehrte.
Für einen Moment hatte Jonas das Gefühl, ein Auge öffne sich. Der Schläfer blicke in die Kamera. Blicke in vollem Bewußtsein, gefilmt zu werden, in die Kamera, und schließe das Auge rasch wieder.
Als er sich die Stelle ein zweites Mal ansah, wurde er unsicher. Nach dem viertenmal war er überzeugt, sich getäuscht zu haben. Es ergab auch keinen Sinn.
Nach neunundfünfzig Minuten murmelte der Schläfer einige Sätze. Ihr Wortlaut war nicht zu verstehen. Er ruderte mit den Armen. Drehte sich von der Kamera weg. Der Bildschirm wurde dunkel, die Kassette surrte auf, und Jonas ärgerte sich, nur ein Einstundenband eingelegt zu haben.
Er spulte zurück. Sah sich die letzte Minute in Zeitlupe an. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Er lauschte den vier Sätzen. Am verständlichsten war noch der zweite. Aus diesem meinte er drei Worte herausfiltern zu können, »Kaiser«, »Holz«, »beenden«. Was nicht sehr aufschlußreich war.
Er schaute sich das Band noch einmal von vorn an.
Fast fünfzig Minuten
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