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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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vergingen ereignislos. Dann kam die Stelle, die ihn beim erstenmal irritiert hatte.
    Es geschah erneut.
    Für den Bruchteil einer Sekunde war da ein scharfer Blick aus dem Auge des Schläfers. Ohne ein Zeichen von Schlaftrunkenheit blickte er in die Kamera. Das Auge schloß sich wieder.
    Jonas suchte auf dem Tisch die Fernbedienung. Fand sie jedoch nicht, weil er sie in der Hand hielt. Es dauerte eine Weile, bis sein zitternder Daumen den Knopf traf, der die Kassette abschaltete.
    Er durfte sich nicht verrückt machen. Wenn er wollte, konnte er bestimmt weitere befremdliche Details auf der Kassette finden. So wie er sich auf den Audiokassetten Geräusche einbilden konnte. Wenn er wollte, konnte er sofort ein Dutzend vermeintliche Hinweise auf dieses und jenes finden. Warum hatte ihn der Buschauffeur am 1. Juli so seltsam gegrüßt? Worüber hatten Martina und der sonderbare neue Kollege beim Betriebsfest getuschelt? Wieso hatte am 3. Juli an allen Wohnungstüren im Haus der Reklamezettel eines Pizzazustellers gehängt, nur an seiner nicht? Wieso regnete es fast nie? Wieso hatte er zuweilen nach zehn Stunden Schlaf das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben? Wieso meinte er, beobachtet zu werden?
    Er mußte sich unter allen Umständen an das halten, was da war. Was eindeutig belegbar, nicht zu bestreiten war.
    Er zog die Jalousien hoch. Öffnete das Fenster. Er überprüfte, ob die Wohnungstür geschlossen und abgesperrt war. Nachdem er alle Räume kontrolliert hatte, warf er einen Blick in den Wandschrank.
    Das Gewehr neben sich, sah er sich die gesamte Aufnahme noch einmal an, im Zeitraffer. An der Stelle, die ihn verwirrte, schaute er aus dem Fenster. Vor den gemurmelten Sätzen schaltete er in die normale Wiedergabe zurück.
    Mehr als die drei Worte waren nicht zu verstehen. Er hatte nicht das Gefühl, daß ihm der Schläfer etwas sagen wollte. Trotzdem fühlte er, daß er etwas Wichtiges beobachtete.
    Im Schlafzimmer bereitete er zwei Kameras vor. Die eine postierte er einige Meter vom Bett entfernt. Die andere richtete er so ein, daß sie das Kopfende des Bettes filmte. Zwar bestand die Gefahr, daß er sich im Schlaf aus dem Bild wälzte, aber er wollte sein Gesicht unbedingt aus der Nähe sehen, und wenn es nur für Minuten war.
    Er legte Dreistundenbänder ein.

9
    Er erwachte mit einem Tick in der Hand. In seinem Daumenballen zuckte es. Er schlug auf das Kopfkissen, rieb über die Stelle. Das Zucken hörte nicht auf.
    Er drehte sich auf die Seite. Auf dem Kissen neben ihm lag ein T-Shirt von Marie. Sie hatte es keine einzige Nacht angehabt. Er hatte am 3. Juli die Betten überzogen, nachdem er ihrem Taxi hinterhergewunken hatte. Dennoch haftete noch schwach ihr Geruch daran.
    Er blickte auf ihren Bademantel, der an einem Haken an der Wand hing. Auf ihren Wäscheschrank, aus dem ein eingeklemmter Slip herauslugte. Auf die Bücher, die sich auf ihrem Nachttisch stapelten.
    Auf dem Weg in den fünften Bezirk aß er einen Apfel. Weder Äpfel noch eine andere Sorte Steinobst mochte er besonders. Seine Mutter hatte sie ihm aufgezwungen. Was gesund war und was nicht, was gegessen und worauf verzichtet werden sollte, darüber hatte er mit ihr bis zu ihrem Tod gestritten. Er vertrat die Ansicht, was für den einen gesund sei, müsse dem anderen nicht guttun. Sie widersprach. In ihrer Welt hatte alles einen Platz. Als Kind hatte sie ihm den Sommerurlaub in Kanzelstein verleidet, indem sie mit ihm jeden Tag durch den Garten gestreift war und ihm Äpfel, Birnen, Beeren und sogar Gewächse wie Sauerampfer zu kosten gegeben hatte. Sein Vater hatte dazu auf seinem Liegestuhl den Kopf geschüttelt, sich aber doch lieber zurückgelehnt und seine Zeitschrift umgeblättert.
    Als er in die Wienzeile einbog, erinnerte er sich, daß er keine Umzugskartons besorgt hatte. Hier in der Nähe wußte er keinen Laden, der sie führte. Er boxte gegen das Lenkrad und wendete. Zum zweitenmal an diesem Vormittag kam er an der Pfarrkirche Maria vom Siege vorbei, an deren Fassade ihm ein Transparent versicherte, er würde von Jesus geliebt. Er hupte.
    Die Automatiktür des Baumarkts am Lerchenfelder Gürtel surrte ruckartig auf. Ohne irgendwo anzustreifen, steuerte er den Spider durch die Gänge. Die Umzugskartons fand er im hintersten Bereich des Markts. Wie viele er brauchte, konnte er nicht abschätzen, daher packte er den Wagen mit ihnen voll.
    Noch bevor er in die Wohnung ging, machte er in der Rüdigergasse einen Spaziergang. Er läutete

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