Die Arbeit der Nacht
Gefühl, in eine versunkene Welt einzutauchen. Über den Räumen lag eine Atmosphäre des Aufbruchs.
An ihm war es nun, das Alte wiederherzustellen. Falls er etwas auf der Welt sein eigen nennen wollte. Denn wenn er über alles verfügen, auf jeden Wagen, jede Vase, jedes Glas in Wien zugreifen konnte, blieb ihm nichts, was ihm gehörte.
Vom Fenster aus verfolgte er, wie die Sonne hinter den Horizont sank. Um den 21. Juni hatte sie die ausgedehnteste Bahn erreicht, ging hinter einem dichten Waldstück auf dem Exelberg unter. Seit damals rückte dieser Punkt kaum merklich nach links.
An einem Abend wie diesem hatte er sich vor sechzehn oder siebzehn Jahren auf seinen ersten eigenen Urlaub vorbereitet. Den Rucksack gepackt, das neue Zweimannzelt vom Schrank geholt, beim Nachbarn den Sturzhelm ausgeborgt. Um vier Uhr morgens läutete der Wecker, doch Jonas war längst wach gelegen.
Während der achtstündigen Fahrt nach Oberösterreich an den Mondsee fror er schaurig, weil er die Nachtkälte unterschätzt und sich zu dünn angezogen hatte. Das Abenteuer war es aber wert. Die im Dunkeln liegenden Dörfer, durch die man fuhr. Am Straßenrand Häuser, in denen gerade aufgestanden, geduscht, rasiert, Kaffee gekocht oder doch noch geschlafen wurde, während man selbst unterwegs war. Die fremden Gerüche. Das Morgengrauen an einem Ort, den man nie zuvor gesehen hatte. Allein. Romantischer Wagemut.
Er ließ die Jalousien herunter.
Vor der Schlafzimmertür hielt er inne. Die Hand, die schon auf der Klinke lag, zog er zurück. Er beugte sich hinab und blickte durch das Schlüsselloch ins Schlafzimmer.
An der Wand gegenüber sah er die Stickerei, die Maries Mutter ihnen geschenkt hatte. Darunter stand die Wäschekommode. Rechts erahnte er das Fußende des Bettes.
Die Stickerei zeigte eine Frau, die an einem Ziehbrunnen stand und ein Hemd in den Händen hielt. Sie trug ein Kopftuch. Im Hintergrund war ein traditionelles Bauernhaus zu sehen. Während die anderen Farben matt blieben, war die Tür in auffälligem Rot gestrichen. Über dem Eingang fand sich die Inschrift K+M+B. Lesen konnte Jonas dies durch das Schlüsselloch allerdings nicht.
Auf der Wäschekommode stand eine Obstschale aus Keramik. Daneben lehnten zwei nachgebildete Duellpistolen an einem Bücherstapel. Sein Vater hatte sie ihm geschenkt.
Er fühlte einen schwachen Luftzug im Auge.
Zwischen ihm und dem Bild mit der Wäscherin befand sich eine Tür. Er hielt sich außerhalb auf und sah doch, was sich in dem leeren Zimmer ereignete. Strenggenommen gab es niemanden, der auf diese Wäschekommode schauen konnte. Es war ja niemand da. Für das Zimmer war niemand da. Somit sah er, was in einem Buch geschah, wenn es zugeschlagen war.
Doch irrte er nicht? Überschritt er mit dem Blick durchs Schlüsselloch nicht eine Grenze? Wurde wieder zu einem Teil des Zimmers?
Er startete die Kassette. Das ganze Bett war im Bild. Wie beim letztenmal sah er sich an der Kamera vorbeigehen und ins Bett fallen. Minuten später drang leises Schnarchen des Schläfers aus den Lautsprechern.
Während er den Schläfer beobachtete, überlegte er, ob er nicht parallel zu dieser Aufnahme die andere Kassette ansehen sollte. Jene, die das Gesicht des Schläfers in der Totalen zeigte. Dazu müßte er allerdings einen zweiten Fernseher und Videorekorder besorgen. In den umliegenden Wohnungen waren diese Geräte jedenfalls aufzutreiben. Aber nun, bequem auf der Couch ausgestreckt, spürte er, wie angeschlagen er von der Arbeit war. Er winkte ab. Wahrscheinlich würde es nichts ändern.
Auch der Schläfer mußte in der vergangenen Nacht müde gewesen sein. Regungslos lag er da. Nach über dreißig Minuten wälzte er sich zum erstenmal auf die andere Seite. Das war einerseits recht günstig, denn dadurch, daß sich der Schläfer kaum bewegte, blieb er auch für die zweite Kamera im Bild, und Jonas würde später sein Mienenspiel studieren können. Andererseits befeuerte diese Ereignislosigkeit seine Nachforschungen nicht gerade.
Er spürte ein Kratzen im Hals. Nein, das konnte nicht sein. Normalerweise war er höchstens einmal im Jahr erkältet. Er konnte doch nicht kurz nach einer überstandenen Erkältung schon wieder krank werden. Am besten, er sorgte vor.
Den Blick nur kurz vom Bildschirm abwendend, bereitete er sich einen Grog zu. Vitamintabletten beschaffen, notierte er im Geist.
Erneut wälzte sich der Schläfer herum. Ihm schien heiß zu sein. Er strampelte sich frei, so daß
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