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Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe

Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe

Titel: Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Furey
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Klagelied, so nannte ihr Volk diesen Klang. Das alptraumhafte Gebäude des Tempels war eigens erbaut worden, um seinen Niedergang zu bezeugen – und sein Schicksal.
    Incondors Klagelied … Jetzt verstand Rabe das Unglück einer gequälten Seele, das in diesem furchterregenden Klang mitschwang. Mit träumerischem Gleichmut betrachtete sie ihre Hand – eine weiße Spinne, überströmt mit rostrotem Blut –, wie sie einen qualvollen Zentimeter nach dem anderen auf das spindeldürre Bein des Nachttischs zukroch. Endlich berührten ihre Finger den Tisch und schlossen sich um das glatte, kalte Metall. Gut. Die Beine hatten immer einen etwas unsicheren Stand gehabt; sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter wieder und wieder gequält hatte, das Tischchen reparieren zu lassen. Rabe holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Fall jetzt nur nicht in Ohnmacht! befahl sie sich zornig. Prinzessin des Himmelsvolkes, wage es nicht, ohnmächtig zu werden! Dann zog sie, zog so fest sie nur konnte.
    Der Schrei explodierte gegen ihre zusammengebissenen Zähne und tauchte schließlich als ein Wimmern daraus auf, ein Laut, der jedoch sogleich durch das Krachen splitternden Kristalls übertönt wurde. Das Geräusch verhallte, und alles wurde schwarz. Verflucht sollst du sein, Rabe, fall nicht in Ohnmacht ! Irgendwie schaffte die Prinzessin es, sich von dem Rand des Abgrunds zurückzureißen, indem sie jeden Fluch vor sich hinmurmelte, den sie von Aurian gelernt hatte, bis der Schmerz den Punkt erreicht hatte, an dem er einfach nur noch unerträglich war. Sie öffnete wieder die Augen. Und da war es. Die Schale ihres Kristallkelchs war in kleine Stücke gesplittert, aber der dickere Stiel war unversehrt davon abgebrochen, wie sie es gehofft hatte. Die Stelle, an der er früher mit dem Kelch verbunden war, hatte jetzt einen scharfen gezackten Rand.
    Sie hatte ihn sich eigentlich in die Brust rammen wollen. Aber als sie zitternd dalag, jeder Muskel und jeder Knochen überdehnt und kraftlos, wußte Rabe, daß sie es nicht schaffen würde. Außerdem waren die Herzen der Geflügelten schwer zu finden, denn sie lagen geschützt unter dem großen, kielförmigen Brustbein, in dem die Muskeln ihrer mächtigen Schwingen verankert waren.
    0 Vater des Himmels – warum haben sie mir meine Flügel genommen ? Endlich gestattete Rabe es sich, einige Tränen zu vergießen, Tränen um all die Herrlichkeiten, die sie nun nie wieder würde genießen können; die Freude an der Jagd – zu schweben über sich unablässig verändernden Wolkengebirgen, hindurchzustoßen durch kälteste, graue Nebel, um unter sich die majestätischen Berge aufblitzen zu sehen … Und das Licht! Die reinen, strahlenden Farben, die sich mit jeder Stunde des Tages veränderten …
    Trunken von der Herrlichkeit eines lang vergessenen Sonnenuntergangs, griff Rabe nach dem abgebrochenen Stiel des Kelchs und riß das gezackte Kristall über die Adern ihres ausgestreckten Arms …
     
    Cygnus saß auf dem einsamen Hocker in seiner winzigen Zelle in den Gewölben unter dem Tempel des Yinze und las. Zumindest versuchte er zu lesen. Der Wind blies immer noch heftig, und das kreischende Jammern von den Turmspitzen über ihm konnte mühelos durch den soliden Felsen dringen, der zwischen dem jungen Arztpriester und der Quelle dieses abscheulichen Geräusches lag. Cygnus stöhnte, wobei der Klang seiner Stimme in dem allgemeinen Hintergrundgetöse ungehört verklang. Incondors verfluchtes Klagelied! Es störte ihn nicht nur in seiner Konzentration, sondern machte ihn mit seinem unheimlichen Heulen schon seit einiger Zeit nervös. Wenn das noch lange so geht, dachte er, verliere ich den Verstand. Schwärzeste Gotteslästerung, die es sein mochte, wünschte Cygnus sich doch, daß der Schöpfer des Tempels etwas mehr an die armen Priester gedacht hätte, die in seinen unteren Gewölben leben mußten.
    Abgesehen von der Qual des Klagelieds gingen dem jungen Arztpriester zu viele Dinge durch den Kopf, um sich zu konzentrieren. Die Oberste Ärztin Elster hatte sich ebenfalls um die Königin gekümmert, als diese krank gewesen war, und Cygnus wußte, daß sie die Wirkung des Giftes erkannt haben mußte, das er Flammenschwinge auf Schwarzkralles Anweisung hin verabreicht hatte. Nur Elsters wilder Blick und der eiserne Griff, mit dem sie ihre Krallen in die Knochen seines Handgelenks gebohrt hatte, hatten ihm verraten, daß sie wußte, was er getan hatte; die Tiefe seines Respekts für seine

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