Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
man eine alte Wunde aufgerissen. Dann sah er Eliseths kalte und vollkommene Schönheit und schließlich seine Mutter, so wie Ria in ihrer Jugend ausgesehen haben mußte … Die Folge von Frauen ging weiter und weiter, und eine jede war schöner als die vorherige. Zornig wandte Anvar sich ab. »Hör damit auf!« fuhr er die Cailleach an. »So schön du auch sein magst, Herrin, ich habe kein Interesse daran, hier bei dir zu bleiben. Ich habe mein Herz bereits verschenkt – einer anderen.«
»Ach wirklich?« erkundigte die Cailleach sich mit seidenweicher Stimme. »Nach dem, was ich in deinen Gedanken gelesen habe, als du dich dem Zeitlosen See genähert hast, ist das Herz deiner Liebsten ebenfalls vergeben – und zwar nicht an dich.«
»Das ist eine Lüge!« rief Anvar. »Sie braucht nur Zeit, das ist alles!«
»Wieviel Zeit? Einen Monat? Ein Jahr? Für immer? Deine Lady ist unlenkbar, Anvar, und ihre Trauer hat sie fast um den Verstand gebracht. Kannst du sicher sein, daß sie das Andenken ihres toten Liebsten betrügen wird? Und das ausgerechnet mit demjenigen, der indirekt für seinen Tod verantwortlich war?« Die Macht der Stimme, mit der die Cailleach nun sprach, hatte etwas zutiefst Hinterhältiges. Ihre Mondsteinaugen hielten den Blick des Magusch fest, hypnotisch und glitzernd wie Schlangenaugen. Anvar wollte protestieren – wollte leugnen, was sie sagte, aber er fand keine Worte, denn sie hatte mit grausamer Zielsicherheit jenen dunklen Punkt des Zweifels im tiefsten Kern seiner Seele berührt.
»Warum willst du das Risiko eingehen? Warum, wenn ich doch alles sein kann, was Aurian ist – und mehr!« Als die Cailleach wieder zu sprechen begann, veränderte sie sich von neuem – und der Magusch sah sich plötzlich seiner Geliebten gegenüber. Aurian, so wie sie vor langer Zeit in Nexis gewesen war, bevor die Entbehrungen sie hart gemacht hatten und Trauer und Rachsucht ihrem Blick etwas Stählernes gegeben hatten. Statt dessen erlebte Anvar nun atemlos, wie sie ihn ansah – ihn – mit einem Ausdruck in den Augen, der bisher immer für Forral reserviert gewesen war.
Anvar krampfte seine Finger um den Rahmen der Harfe, damit seine Hände zu zittern aufhörten. Aurian machte einen Schritt nach vorn und streckte die Arme aus, um ihn an sich zu ziehen. »Mein Geliebter …« hauchte sie.
»… so lange ich dich habe, habe ich auch Hoffnung .« Als diese letzten Worte, die die wahre Aurian zu ihm gesprochen hatte, durch seine Gedanken hallten, war der Bann der Cailleach plötzlich gebrochen.
»Laß mich in Frieden!« fauchte der Magusch. »Was soll ich mit einem schalen Ersatz, wenn ich doch die wirkliche Liebe meiner Auserwählten haben kann?«
Mit einem blendenden Lichtblitz verschwand die Vision von Aurian. Die Cailleach stand wieder in der Gestalt einer alten Frau vor ihm – und zu Anvars Erstaunen lächelte sie. Sie war nicht länger die Verführerin, nicht länger eine gewaltige Gestalt voller Majestät, sondern sah jetzt aus wie eine weise und freundliche Großmutter. »Zauberer, du hast den Test bestanden«, sagte sie sanft. »Du bist der Harfe wahrhaft würdig – denn nur einem Geschöpf mit einem wirklich liebenden und treuen Herzen kann ich so sehr vertrauen, daß ich ihm eine so gewaltige Macht mit in die Welt gebe.«
Mit diesen Worten nahm die Herrin der Nebel ein silbernes Messer aus ihrem Gürtel und schnitt sich eine Locke aus ihrem langen Haar. Dann streckte sie die Hand nach der Harfe aus, die der erschrockene Magusch noch immer fest umklammerte, und ließ ihre Finger über das glitzernde Artefakt gleiten. Die schneeweiße Locke verschwand, verwandelte sich in einen Wasserfall silberner Saiten, die nun den Rahmen der Windharfe zierten. Ungeheure Macht schäumte in Anvar auf, und glückseliger Sternengesang durchflutete ihn. Der Stab der Erde, der in seinem Gürtel steckte, flammte in einem wunderbaren grünen Licht auf, um sich dem silbernen Funkeln der Harfe anzuschließen. Die Herrin der Nebel hob noch zum Abschied die Hand …
… und Anvar fand sich auf einem verschneiten Berggipfel wieder und blickte in die Sonne, die sich über Aerillia erhob. Eine letzte Botschaft der Cailleach hallte durch seine Gedanken, und in seinen Händen lag die Harfe der Winde.
Die Träger der Himmelsleute waren über das anschwellende Leuchten, das aus den Ruinen des Tempels kam, zutiefst erschrocken. Nur die Tatsache, daß sie vor Aurian noch mehr Angst hatten, brachte sie dazu, die Magusch
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