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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten
Autoren: Stanislaw Lem
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Segeln. Als ich bemerkte, wie das kleine Schiff immer schneller wurde, sich mit geblähten Segeln von den anderen löste, sie überholte und schließlich im Nachtnebel verschwand, da befahl mir eine innere Stimme, unverzüglich nach Hause zurückzukehren. Eigentlich hätte ich gern noch ein wenig diese lyrischen Eindrücke genossen. Aber war das nicht die Stimme des geschwächten Organismus gewesen, der nun energisch sein Recht auf Ruhe geltend machte?
    Zu Hause angekommen, ordnete ich meine Kärtchen und – lachen Sie mich ruhig aus – notierte mir neue Literatur, mit der ich mich so bald als möglich beschäftigen wollte. So, mit der Feder in der Hand, inmitten eines angefangenen Wortes schlummerte ich am Schreibtisch ein. Ich hatte einen ganz sonderbaren Traum. Ich träumte von Polystyrenen und Butadienen. Gut, daran wäre zu damaliger Zeit noch nichts Sonderbares gewesen. Eigenartig war nur, daß sie sich so verhielten, als bliese ein mächtiger Sturm zwischen sie. Und da ordnen sie sich in einer seltsamen Weise nicht so, wie es der Herrgott oder besser gesagt, die Formeln in den Lehrbüchern verlangen, sondern wie geblähte Segel. Je stärker der Sturm pustet, um so weiter breiten sich die Moleküle aus. Zwischen ihnen fliegt etwas Längliches hin und her, wie das Schiffchen eines Webstuhles. Ein Weberschiffchen? Aber nein, das ist ja der weiße Kutter – und dann entsteht auf einmal ein großes Kristallgitter ... Im Aufwachen verspürte ich ein durchdringendes Angstgefühl, daß ich den Traum vergessen könnte, und sofort begann ich – auf einmal hellwach geworden – zu schreiben. Ich sah mit einer gewissen, allerdings freudigen Bestürzung, daß unter meiner Feder Formeln über das Papier liefen ...«
    Rainer stockte.
    »Großartige Formeln«, sagte er dann mit einem leichten Seufzer und lächelte wieder, als wollte er um Entschuldigung bitten. »Ich kann sie nicht anders bezeichnen: großartige Formeln waren es. Ich hatte kaum die letzte niedergeschrieben, da sprang ich zur Tür, eilte durch das Vorzimmer, ergriff den Mantel, und ohne Mütze, mit bloßem Kopf trabte ich den ganzen Weg durch den strömenden Regen. Ich hätte es nicht fertiggebracht, ruhig in der Straßenbahn zu sitzen. So kam ich endlich zum Institut. Es war vier Uhr morgens.
    Ich weckte die Laboranten. Die wagten nicht einmal, sich verständnissinnig anzusehen, so erschrocken waren sie durch mein frühes Erscheinen und mein Aussehen. Ich lief vor ihnen her, bat, flehte, schrie, daß sie doch nachdenken und sich erinnern möchten, ob nicht vor einem Jahr, als dort noch Jaensch, Hoeller und Braun arbeiteten, in einem der unteren Säle ein starkes Elektronengerät gestanden habe, irgendeine große Vakuumröhre, zum Beispiel eine Crooksche Röhre oder vielleicht ein neues Elektronenmikroskop.
    Ich versichere Ihnen, es dauerte mindestens eine halbe Stunde, ehe es mir gelang, die Schlaftrunkenheit und das Erstaunen dieser phlegmatischen Hamburger zu überwinden. Dann endlich erinnerte sich der älteste unter ihnen, Wolf – sein Name sei gepriesen –, daß in den Sälen zwar nichts Derartiges vorhanden gewesen war, daß man aber einen Monat vor Abschluß der Forschungsarbeiten unten, im Erdgeschoß, einen linearen Atombeschleuniger vom Typ V, das heißt also einen vertikalen, mit senkrechter Mündungsröhre aufgestellt hatte. Nach zweitägiger Überprüfung brachte man ihn in ein anderes Gebäude, da man festgestellt hatte, daß seine Strahlung so stark war, daß sie durch alle Stockwerke drang und daher eine schädliche Wirkung auf die in den oberen Sälen Beschäftigten haben konnte.
    ›Das Datum! Das genaue Datum! Wann war das?‹ rief ich. Zögernd nannte er es. Ich sauste an den verblüfften Laboranten vorbei, riß die Schlüssel aus dem Kasten, stürzte ins Laboratorium und war kurze Zeit darauf schon inmitten des großen Geheimnisses: An dem Tage, an dem der Beschleuniger aufgestellt worden war, hatte man die Proben von Nummer 6419 bis 6439 gemacht. Darunter befand sich also auch jenes wunderbare Stück Gummi, und zwar als letzte Probe dieser Versuchsreihe. Es taugte ebensowenig wie die anderen. Nachdem die Röntgenaufnahmen beendet waren, blieb dieses Stück Gummi im heißen Ofen, und die Chemiker verließen das Laboratorium. Als niemand mehr oben war, begannen die Techniker im Erdgeschoß mit der Überprüfung des Beschleunigers. Der Strom der ausgeschleuderten elektrischen Teilchen drang durch die drei Stockwerke, gelangte auch in
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