Die Attentaeterin
die Wucht der Schicksalsschläge, sein nüchterner Blick hält die verheerenden Auswirkungen einer Realität auf Distanz, die ihre Versprechen einzulösen vergisst und Hoffnungen nur weckt, um sie zu töten. Ich muss ihn nur reden hören, schon habe ich all meine Sorgen vergessen. Wenn er sich in seinen sprudelnden Theorien über Tobsucht und Torheit des Menschengeschlechts ergeht, kennt er kein Halten und reißt alles mit, mich zuerst.
»Ein Menschenleben ist wertvoller als jedes Opfer, und wenn es das höchste Opfer wäre«, bekennt er und hält meinem Blick stand. »Denn es gibt kein größeres, kein gerechteres, kein edleres Anliegen auf Erden als das uneingeschränkte Recht auf Leben …« Dieser Mann ist ein Glücksfall. Er besitzt die Gabe, sich von den Ereignissen nicht überrollen zu lassen, und hat den Anstand, vor dem Ansturm des Missgeschicks nicht einzuknicken. Sein Reich? Die Hütte, in der er wohnt. Sein Festessen? Die Mahlzeit, die er mit denen teilt, die er schätzt. Sein Ruhm? Ein simpler Gedanke in der Erinnerung derer, die ihn überleben werden.
Wir verbringen plaudernd Stunde um Stunde oben auf dem Hügel, auf einem großen Stein sitzend, den Rücken der Mauer und den Blick beharrlich dem zugewandt, was von den Obstgärten auf den Ländereien des Stammes noch übrig ist …
Eines Abends, nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe, holt das Unglück mich dann ein: Frauen in Schwarz bevölkern den Patio. Faten steht abseits, den Kopf in den Händen vergraben. Wimmerndes Stöhnen, unterbrochen von lauten Schluchzern, erfüllt den Hof und verheißt nichts Gutes. Einige Männer unterhalten sich neben dem Hühnerstall, Verwandte und Nachbarn.
Ich suche nach dem Stammesältesten, sehe ihn nirgends.
Sollte er gestorben sein …?
»Er ist in seinem Zimmer«, erklärt mir ein Cousin.
»Hadscha ist bei ihm. Er hat die Nachricht sehr schlecht aufgenommen …«
»Welche Nachricht …?«
»Wissam … Er ist heute früh auf dem Feld der Ehre gefallen. Er hat sein Auto mit Sprengstoff gefüllt und ist in einen israelischen Kontrollposten gerast …«
Im Morgengrauen rücken die Soldaten an. Ihre Gitterfahrzeuge besetzen den Obstgarten, umzingeln das Haus des Patriarchen. Sie haben einen Panzerträger dabei, mit einem Bulldozer auf der Ladefläche. Der Offizier verlangt den Patriarchen zu sehen. Da Omr unpässlich ist , vertrete ich ihn. Der Offizier erklärt mir, dass wir infolge des durch Wissam Jaafari begangenen Selbstmordanschlags auf einen Checkpoint und gemäß den Instruktionen, die er von seinen Vorgesetzten erhalten hat, exakt eine halbe Stunde Zeit haben, um das Anwesen zu räumen und ihm zu erlauben, es zu zerstören.
»Was soll das ?« , protestiere ich. »Sie wollen das Haus abreißen ?«
»Es bleiben Ihnen genau neunundzwanzig Minuten, mein Herr .«
»Kommt nicht in Frage. Wir werden nicht zulassen, dass Sie unser Haus abreißen. Was ist denn das für eine Forderung? Wo sollen die Leute, die hier wohnen, denn hin? Es gibt hier zwei alte Menschen, die fast hundert sind und versuchen, die wenigen Tage, die sie noch haben, so gut es geht über die Runden zu bringen. Sie haben kein Recht, so etwas zu tun … Das hier ist das Haus des Patriarchen, der Mittelpunkt für den ganzen Stamm. Sie werden gefälligst wieder abziehen, und zwar sofort .«
»Achtundzwanzig Minuten, mein Herr.«
»Wir bleiben im Haus. Wir werden uns nicht von hier fortrühren .«
»Das ist nicht mein Problem«, erklärt der Offizier.
»Mein Bulldozer ist blind. Wenn er einmal loslegt, dann gründlich. Sie sind gewarnt .«
»Komm«, sagt Faten und zieht mich am Arm davon.
»Diese Leute haben nicht mehr Herz als ihre Panzer. Lass uns retten, was zu retten ist, und dann aufbrechen .«
»Aber sie werden das Haus niederreißen !« , rufe ich.
»Was ist schon ein Haus, wenn man ein ganzes Land verloren hat«, seufzt sie.
Einige Soldaten laden den Bulldozer vom Panzerträger herunter. Andere halten die Nachbarn auf Abstand, die von allen Seiten angelaufen kommen. Faten hilft dem Stammesältesten in den Rollstuhl und bringt ihn in den Hof, damit er nichts mitbekommt. Najet will nichts mitnehmen. Das sind alles Dinge, die zum Haus gehören, sagt sie. Wie in alten Zeiten, da man die Herrschaften mitsamt ihrem Hab und Gut begrub. Dieses Haus hat es verdient, seine Habseligkeiten bei sich zu behalten. Es ist das Gedächtnis einer Epoche, das da erlischt, mit all seinen Träumen und Erinnerungen.
Die Soldaten vertreiben
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