Die Augen der Medusa
Auf jeden Fall um einiges lauter, als man es erwartet hatte. Er schien gar nicht mehr aufzuhören, brandete durch die beiden niedrigen Kellerräume, prallte von den Mauern zurück, überschlug sich in den nachfolgenden Schallwellen und hallte ohrenbetäubend wider. Nach dem Knall zu urteilen, musste da, wo die Piazza mit den umliegenden Häusern gelegen hatte, jetzt ein Krater aufgerissen sein, der tief in die Kontinentalscholle hinabreichte. Aber das täuschte natürlich. Selbst die Trennmauer, hinter der sich Fernsehleute und Dorfbewohner in Sicherheit gebracht hatten, stand noch.
Dort blitzten jetzt die ersten Taschenlampen auf. Die Strahlen irrten durch den Raum, huschten so schnell über Hände und Gesichter, dass kaum zu erkennen war, wem sie gehörten, und saugten sich schließlich an dem Beleuchter von Canale 5 fest. Der rückte bereits seine Scheinwerfer aus der Deckung in die vorgesehene Position. Von irgendwoher im Dunkel rief Miguel, dass er jeden umbringe, der ihm vor die Kamera laufe, und dann sprangen die Scheinwerfer kurz hintereinander an. Ihr weißes Licht flutete durch den Kellerraum, erreichte jedoch nicht die Stelle, an der die beiden Sprengsätze befestigt worden waren. Eine dichte Nebelwand aus pulverisierten Mauerteilen wogte ihm entgegen und verschluckte den Schein der Lampen. Aus der flirrenden Staubwolke waren Geräusche zu hören. Als ob jemand in Panik eine Treppe hinaufhastete.
»Geh rein, Miguel, los!«, rief die Reporterin. Der Kameramann rückte Schritt um Schritt vor und schien sich dabei von unten her in der Staubwand aufzulösen, bis nur noch sein Kopf und die geschulterte Kamera schemenhaft zu erkennen waren. Anscheinend sanken die Schwaden langsam ab. Die Dorfbewohner kümmerten sich nicht um Anna-Maria Guglielmi, die sie mit ausgebreiteten Armen zurückzuhalten versuchte. Immerhin hatten sie den Weg hierher frei gemacht, den Tunnel gegraben, die Sprengung durchgeführt. Jetzt war keiner mehr zu halten. Sie schoben die Reporterin nach vorn, drängten nach.
Hinter der Silhouette des Kameramanns war das gesprengte Loch als große dunkle Fläche zu erahnen. Möglicherweise hatte in Minhs Untergeschoss schon vorher kein Licht gebrannt, genauso wahrscheinlich war aber, dass die Explosion die Glühbirnen gewaltsam ausgelöscht hatte. Von der Kellermauer war jedenfalls nicht viel übrig. Die Brocken mussten wie Geschosse durch den Raum geflogen sein. Selbst Franco Marcantoni gestand sich ein, dass eine Stange wohl mehr als genügt hätte. Doch gesprengt war gesprengt, und wenn sich da nun ein Loch auftat, durch das ein Panzerwagen der Staatspolizei hätte rollen können, hatte das ja auch seine Vorteile.
»Wir sind gleich auf Sendung«, rief der Übertragungstechniker von hinten. »Drei, zwei, eins und …«
Das Licht der Scheinwerfer fraß sich mit Mühe durch den pulvrigen Schleier, der drüben immer noch in der Luft lag. Es tastete sich über Steinbrocken und unidentifizierbares zertrümmertes Mobiliar. Dort, wo sich der Staub allmählich zu der Treppenschräge verfestigte, die in Minhs Büro hinaufführte, hustete jemand schwer. War das vielleicht Minh? Das Husten ging in ein schmerzvolles Stöhnen über. Um Gottes willen! War der Junge etwa durch die Explosion verletzt worden?
»Hier ist Anna-Maria Guglielmi live aus Montesecco. Soeben wurden wir Zeugen, wie die Einwohner dieses kleinen Ortes sich den Weg zum Untergeschoss des Geiselnehmerhauses freigesprengt haben. Noch ist die Explosion kaum verhallt, noch hat sich der Pulverdampf nicht gelegt, und schon dringen die Dorfbewohner vor, entschlossen, die – wie sie sagen – unerträgliche Hinhaltetaktik der Ermittlungsbehörden nicht länger hinzunehmen und selbst dieses Drama zu beenden, das auch ihren Heimatort so sehr in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Entscheidung steht unmittelbar bevor. Ich wiederhole, meine Damen und Herren, die Bilder, die Sie gerade sehen, kommen live aus dem Geiselnehmerhaus in Montesecco.«
Die Stimme der Reporterin ließ an Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig. Was in den geschätzten fünf Millionen Haushalten, in denen das Telegiornale von Canale 5 lief, über die Bildschirme flimmerte, war allerdings alles andere als spektakulär. Von Sizilien bis Südtirol, von Triest bis zur sardischen Westküste war wie in den Anfangszeiten des Schwarzweißfernsehens ein düsteres, grieseliges Grau zu sehen, aus dem sich nur bei genauem Hinschauen erkennbare Konturen schälten. Die Kamera hielt auf
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