Die Augen der Medusa
Er hatte sie umgebracht.
Der Mond stand höhnisch grinsend im eisigen Nachthimmel. Munì blickte auf seine Kameraden, die noch einmal ihre Waffen prüften. Gleich würden sie losschlagen. Go, go, go. Munì wandte sich ab. Er würde die tote Altedurch die Gassen tragen, hinauf zu der Bar, in der noch Licht gewesen war. Dort würde er sie aufbahren, und während hier der Sturm losbräche, Fenster klirrten, Türen aus den Angeln geblasen würden, Blendgranaten blitzten, Maschinenpistolensalven durch die Nacht peitschten, würde er sich einen Stuhl heranziehen und vor der Leiche einer fremden alten Frau zu trauern versuchen.
Munì tat einen Schritt, trat auf den Gehstock, den die Alte verloren hatte. Einen Moment hielt Munì inne und überlegte, ob er ihn mitnehmen solle, dann stieg er die Treppe hoch. Der Kopf der Alten hing nach unten. Bei jedem Schritt schlug er sacht gegen Munìs Oberarm. Das Laternenlicht aus der Gasse fiel nun auf ihr Gesicht. Die weißen Haare schlängelten sich unter dem Kopftuch hervor. An der Wange hatte ein großer Leberfleck die Haut überwuchert. Quer durch die Stirn schnitten Falten, die runzligen Lider lagen tief in den Augenhöhlen und …
Sie klappten auf! Die Alte öffnete einfach so die Augen, sperrangelweit, und starrte Munì aus zwanzig Zentimetern Entfernung an. Er blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie war nicht tot. Sie murmelte ein paar Worte, die Munì nicht verstand. Es hörte sich nach einer fremden Sprache an. Deutsch vielleicht.
»Was?«, fragte Munì leise. Er lächelte. Sie lebte, konnte sprechen! Sie rief sogar, ja, schrie aus vollem Hals los.
»Alarm!«, kreischte sie.
»Zu Hilfe!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Die Soldaten!«, japste sie und holte neu Luft. »Ein Überfall deutscher Soldaten!«
Die Alte lebte, hatte immer gelebt, eine Untote, ein hässliches Monstrum aus längst vergangenen Zeiten, das aus lauter Verzweiflung, nicht sterben zu können, Unheil stiften musste, wo immer es sich sehen ließ. Munì hätte die alte Hexe beim ersten Laut fallen lassen, sich auf sie stürzen, ihr die Kehle zudrücken, ihr den Kopf abreißensollen, doch er konnte nicht. Er war wie gelähmt. Als wäre er in dem Moment, da diese Augen zu ihm aufblickten, zu Stein erstarrt.
»Verdammt, stell sie ruhig!«, rief Nummer 1 mit unterdrückter Stimme herauf. Brüllend hing die Alte in Munìs Armen.
»Mach sie endlich kalt!«, rief irgendeiner der Kameraden so laut, dass auch die Alte es hören musste.
»Zu Hil…« Sie verstummte mitten im Wort, doch es war zu spät. Schon ging in einem Fenster auf der anderen Seite der Piazza das Licht an. Auf der Dachterrasse des Zielobjekts huschten graue Schatten vom Geländer zurück. Das Gezeter der Alten schien immer noch durch die Nacht zu hallen, und dazwischen mengte sich das hektische Flüstern von Nummer 1, der ins Mikrofon flehte, losschlagen zu dürfen. Jetzt oder nie. Noch könnten sie es schaffen, noch, aber sie dürften keine Sekunde mehr verlieren, sonst …
Im Zielobjekt zehn Meter weiter wurde ein Fenster aufgerissen. Der Raum dahinter blieb dunkel, nur ein schwarzer Schatten schob sich in die Fensteröffnung. Eine schemenhafte Gestalt, deren Gesicht nicht auszumachen war. Umso weniger konnte man die Männerstimme überhören, die schrill vor Panik über die Piazza kreischte: »Zurück! Sonst bringt er uns alle um. Wer immer ihr da draußen seid, haut sofort ab!«
Weitere Fenster wurden hell. Das ganze Dorf schien aufgewacht zu sein. Auf der Piazza rührte sich nichts, von den Kameraden der dritten Einheit war keiner zu sehen. Auch die Dachterrasse über dem Fenster wirkte völlig verlassen.
»Verschwindet! Der meint es ernst«, schrie die Geisel in Todesangst aus dem Fenster.
»Abbruch!«, sagte der Einsatzleiter aus dem Kopfhörer. »Kein Zugriff. Alle Einheiten ziehen sich zurück. Weitere Befehle abwarten!«
Erst jetzt wurde sich Munì bewusst, dass er die Alte immer noch in den Armen hielt. Vorsichtig setzte er sie auf ihren Füßen ab, richtete sich auf, blickte wieder auf das Zielobjekt. Neben dem Mann am Fenster schob sich etwas Längliches aus dem Dunkel. Bevor Munì genau erkennen konnte, ob es das war, was er befürchtete, spuckte das Rohr Blitz und Donner. Der weiße Fiat Uno am anderen Ende der Piazza wurde durch die Granate fast in zwei Hälften zerrissen. Unwillkürlich zuckte Munì zusammen, als der Hall der Explosion zurückschwappte und durch die enge Gasse
Weitere Kostenlose Bücher