Die Augen der Medusa
Minh war ein Zeuge, hatte sein Gesicht gesehen, hätte es den Polizisten beschreiben können, die von überall her in Anmarsch waren. Der Killer konnte ihn nicht einfach laufen lassen. Vielleicht hatte er sogar von Anfang an vor, Geiseln zu nehmen, weil er befürchtete, nicht rechtzeitig untertauchen zu können. Nach dem Anschlag zog er sich nach Montesecco zurück und durchkämmte Haus für Haus, doch er fand niemanden, außer Minh, der in seinem Büro sitzen geblieben war, weil er sich nur für seine Computer interessierte. Tatsache war, dass sich der Täter dort eingenistet hatte. Und zwar nicht allein. Wen sonst sollte er als Geisel festhalten, wenn nicht Minh?
»Nein, das kann nicht sein«, sagte Matteo Vannoni. Minh war sein einziger Enkel. Als er geboren wurde, war seine Mutter selbst noch ein halbes Kind gewesen, gerade siebzehn Jahre alt, und sie stand noch dazu ohne Mann da. Vannoni hatte sich eher als Vater denn als Großvater gesehen, auch wenn er das Catia gegenüber natürlich nie zugegeben hätte. Sie hätte sich sonst maßlos aufgeregt und wäre imstande gewesen, ihm den Umgang mit dem Kind zu verbieten. Jedenfalls hatte sich Vannoni für Minh immer verantwortlich gefühlt, nicht erst nach den grauenvollen Geschehnissen vor neun Jahren.
Die Erinnerung daran schwebte noch wie eine düstere Wolke über Montesecco. Sie würde sich nicht auflösen, nur weil man nicht davon sprach. Dennoch hütete sich jeder, auch nur anzudeuten, dass Minh schon einmal Opfer eines Verbrechens geworden war. Das wussten sowieso alle, da brauchte man nicht neues Unglück herbeizureden, indem man altes beschwor und so den Eindruck entstehen ließ, der Junge zöge zwangsläufig das Böse auf sich.
»Minh kann nicht die Geisel sein«, wiederholte Matteo Vannoni. »Sag du es, Franco, sag allen, warum es nicht Minh ist!«
Franco nickte, stand auf, räusperte sich und sagte: »Wegen der Stimme der Geisel, die nachts aus dem Fenster gebrüllt hat. Das war nicht die von Minh. Hundertprozentig nicht.«
Man konnte sich vorstellen, wie der Attentäter dem verängstigten Mann eine Pistole an die Stirn gepresst hatte. Wie er ihm zugeflüstert hatte, dass es nicht genüge, keine falsche Bewegung zu machen. Dass er so gut wie tot sei und nur eine einzige Chance habe, noch ein wenig weiterzuatmen. Wenn er nämlich dafür sorge, dass sich die Polizisten draußen zurückzögen. Und zwar augenblicklich. Er solle beten, dass ihm das gelänge. Nein, er solle nicht beten, sondern um sein bisschen Leben schreien, was seine Lungen hergäben. Und dann hatte der Killer den Hahn der Pistole gespannt.
In der Stimme der Geisel war die Todesangst fast zu greifen gewesen. Schrill und verzerrt hatte sie sich angehört. Vielleicht hatte sie deswegen so gar nicht nach Minh geklungen. Auch die Sgreccias und andere Dorfbewohner, die um die Piazza wohnten, hätten anfangs schwören können, dass es nicht Minhs Stimme gewesen war, aber vielleicht täuschte man sich ja. Das war doch möglich. Das war sogar zu hoffen. Jeder verstand, dass Matteo Vannoni seinen Enkel nicht gern in der Gewalt eines brutalen Mörders sah, aber was war denn die Alternative? Wenn Minh für den Täter eine Gefahr darstellte und wenn er nicht die Geisel war, aber unauffindbar blieb, dann blieb doch nur eine Möglichkeit. Dann hatte ihn der Killer vielleicht …
»Nein!« Franco Marcantoni schüttelte den Kopf. »Es gibt überhaupt keinen Grund, so schwarz zu sehen. Ich habe jedes Wort der Geisel genau gehört. Uns , hat sie gebrüllt, er bringt uns alle um, wenn ihr nicht abhaut. Uns, das ist mehr als einer, uns alle, das sind sogar mehr als zwei oder drei. Der Attentäter hält nicht Minh gefangen, sondern irgendwelche anderen Geiseln.«
»Welche anderen Geiseln?«, fragte Marisa Curzio. Sie hatten noch einmal nachkontrolliert. So lange brauchteman dafür bei fünfundzwanzig Einwohnern ja nicht. Außer Minh wurde niemand im Dorf vermisst.
»Was weiß denn ich?«, raunzte Franco. »Vielleicht hat der Täter selbst welche mitgebracht.«
Marisa Curzio nippte an ihrem Tee. Francos Erklärung war schwachsinnig, doch keiner widersprach.
»Er könnte nach dem Attentat welche aufgelesen haben«, sagte Franco. »X-beliebige Leute, die zufällig vorbeikamen.«
In Montesecco kam niemand zufällig vorbei, schon gar nicht an einem klirrend kalten Januarvormittag. Außer, man hatte einen sehr guten Grund dafür. Worin der allerdings bestehen sollte, hätte keiner zu sagen gewusst.
»Es
Weitere Kostenlose Bücher