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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Zeiten wild durcheinanderwarf. Ob jemand neben ihr wohnte, seit Jahrzehnten tot war oder vielleicht überhaupt nur in ihrer Phantasie existierte, war für sie vom gleichen zweifelhaften Realitätsgehalt, war ebenso gegenwärtig wie austauschbar. Man musste sich damit abfinden, mal für den eigenen Großvater, mal für einen völlig Fremden gehalten, mal Giorgio und zehn Minuten später Carlo oder Michele genannt zu werden. Eine leise Ahnung, dass dabei vielleicht manches nicht stimmte, war Costanza geblieben. Das äußerte sich in einem permanenten Misstrauen allem und jedem gegenüber.
    Diese Nacht um 3 Uhr 58 stand Costanza Marcantoni mit Einkaufstasche und Gehstock am oberen Ende der Treppe, die zur Piazza hinabführte, und überlegte, ob der Ladenbesitzer, dessen Name ihr gerade entfallen war, sie nicht kürzlich beim Abwiegen von Mehl betrogen habe. Doch, das hatte er ganz gewiss, dieser Kerl mit dem schiefen Grinsen, der immer so freundlich tat, es in Wahrheit aber faustdick hinter den Ohren hatte. Keinesfalls würde sie dem ihr sauer verdientes Geld in den Rachen werfen.
    Costanza setzte den Stock auf und tat einen kleinen Schritt nach vorn. Andererseits, der Rest war ja keinen Deut besser, und bei Rapanotti – genau, so hieß der mit dem schiefen Grinsen –, bei Rapanotti konnte man wenigstens anschreiben. Das war ja auch nicht selbstverständlich heutzutage, da keiner wusste, wie es weitergehen würde und ob das Geld morgen überhaupt noch etwas wert war.
    Costanza musste sich Vorräte anlegen, denn die Zeiten waren schlecht. Zwar hatte der Krieg Montesecco bisherverschont, doch das schien nun auch vorbei. Costanza wusste nicht, ob die Deutschen oder die Amerikaner das Auto in die Luft gesprengt hatten. Es war ihr auch egal, ihr konnten beide gestohlen bleiben. Die sollten ihre eigenen Länder in Brand setzen, nicht Italien, und schon gar nicht Montesecco! Wie die Flammen hochgeschlagen waren, entsetzlich!
    Vorräte. Costanza brauchte unbedingt Mehl, Reis, Zucker, Kaffee. Sie würde zu dem Kerl mit dem schiefen Grinsen gehen. Der ließ anschreiben. Sie drehte um, machte einen Tippelschritt zurück, wandte sich nach links, stemmte den Stock auf die erste Stufe und keifte leise vor sich hin, dass man die Treppe auch weniger steil hätte bauen können. Sie setzte einen Fuß nach unten, zog den anderen nach. Der Stock, die zweite, die dritte Stufe. Costanza ächzte. Ein ordentlicher Handlauf würde nicht schaden. Statt dieser Steinbrüstung, an der sich niemand richtig festhalten konnte und die anscheinend nur dazu diente, das Laternenlicht von der Piazza abzuschirmen. Man sah ja kaum, wohin man den Fuß setzte. Noch ein paar Stufen bis zum Absatz. Dort machte Costanza kurz Pause. Sie blickte über den Hang zum Laden hinüber. Wie hieß doch gleich der mit dem schiefen Grinsen? Der einen immer übers Ohr haute? Das Brot, das Costanza kürzlich gekauft hatte, war auch nicht gut gewesen. Wahrscheinlich mit Sägemehl gestreckt. Auch wenn Krieg herrschte, musste einem so etwas wenigstens gesagt werden.
    Costanza stocherte mit dem Stock nach unten, glaubte seitwärts eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen und wurde herumgewirbelt wie ein welkes Blatt im Wintersturm. Ein Arm umklammerte ihren Oberkörper, eine Hand presste sich so fest auf ihren Mund, als wolle sie den ganzen Kiefer zermalmen. Costanza blieb der Atem weg, und aus schreckgeweiteten Augen sah sie, wie die Steinbrüstung am Treppenabsatz lebendig wurde. Ein dunkler Schatten wuchs hoch, dann noch einer und noch einer, alsgebäre die Nacht dort ihre Ungeheuer, fremde, gesichtslose, schwarze Wesen, die ihre Waffen auf Costanza richteten.
    Sie wollte schreien, hätte aber auch keinen Ton hervorgebracht, wenn ihr der Mund nicht zugepresst worden wäre. Eine Gewehrmündung lag an ihrer Kehle, und direkt vor sich sah sie das Weiß um zwei dunkle Pupillen. Die Ungeheuer besaßen doch ein Gesicht, schwarz bemalt zwar, aber sonst fast menschlich. Sie hatten Augen, eine Nase, gespitzte Lippen, über die sich nun senkrecht ein Zeigefinger legte, zum Zeichen, dass Costanza still sein sollte. Sie deutete ein Nicken an, doch der doppelte Griff um ihren Körper und ihren Mund lockerte sich nicht.
    Schwarze Uniformen! Die SS, das sind die Deutschen!, dachte Costanza. Die Deutschen waren gerade dabei, Montesecco zu besetzen! Fieberhaft überlegte sie, wie man »bitte nicht schießen!« auf Deutsch sagte, doch ihr fiel nur »guten Tag«, »Volkswagen« und der Name des

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