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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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rollte. Über dem Wagen schlugen Flammen hoch, setzten die Fassaden der Häuser in gespenstisch flackerndes Licht.
    »Siehst du, Deutscher«, sagte die Alte neben Munì zufrieden, »wir können uns wehren.«
    Lange vor Tagesanbruch waren alle Häuser an der Piazza geräumt. Ihre Bewohner konnten gerade mal eine Jacke überwerfen und in die Stiefel schlüpfen, doch wer begann, nach Sparbuch und Wertgegenständen zu kramen, wurde erbarmungslos hinausgejagt. Zwei Agenten der Spezialeinheit trugen Elena Sgreccia, die sich strikt weigerte, ihr Haus zu verlassen, zwangsweise ins Freie und in Sicherheit. Auch Donato musste mit sanfter Gewalt von seinem brennenden Fiat weggezerrt werden. Die Vertriebenen sammelten sich vorläufig in Ivan Garzones Bar. Dort fanden sich nach und nach auch die übrigen Dorfbewohner ein, die durch die Hilferufe Costanza Marcantonis und die Explosion der Granate aufgeschreckt worden waren.
    Was eigentlich geschehen war, wusste niemand so genau, und noch weniger hatte man irgendeine Erklärung dafür. Es war, als sei man gerade aus einem Albtraum erwacht, der einen nicht loslassen wollte. Und so, wie man dann barfüßig in die Küche tappte, um die Schrecken des Traums mit einem Glas Leitungswasser hinunterzuspülen, versuchten die Dorfbewohner, dem Notstand auf praktischeWeise zu begegnen. Marta Garzone kochte Tee, und zusammen organisierten sie, wer bei wem ein Bett zur Verfügung gestellt bekam. Erstaunlich schnell waren alle Zwangsevakuierten untergebracht, aber niemand machte sich auf den Weg. Man hätte ja doch nicht schlafen können.
    So bekamen alle mit, wie im ersten Morgenlicht eine halbe Hundertschaft Staatspolizisten in schusssicheren Westen einrückte. Sie schwärmten aus und riegelten die gesamte untere Hälfte Monteseccos ab. Etwa auf Höhe des Hauses von Lidia Marcantoni wurden alle Gassen und Treppen gesperrt, die zur Piazza hinabführten. Hinter rasch aufgestellten Gittern zogen Doppelposten auf. Es sei einfach zu gefährlich, ließ die Einsatzleitung verlauten, dort unten könne der Granatwerfer jedes Haus in Schutt und Asche legen.
    Dass wenigstens der hangaufwärts liegende Teil Monteseccos noch passierbar blieb, lag an der Position des ehemaligen Ladens, in dem sich der Geiselnehmer verschanzt hatte. Nach Norden hin grenzte das Gebäude an ein anderes, höheres Haus, das Deckung bot und das Schussfeld beträchtlich einschränkte.
    »Gott sei Dank ist der Zugang zur Kirche noch frei«, sagte Lidia Marcantoni. Trotz heftigster Gegenwehr hatte sie nicht verhindern können, dass die Staatspolizei das ehemalige Pfarrhaus als vorläufiges Lagezentrum requiriert hatte. Das alte Gemäuer stehe doch sowieso leer, hatte der Einsatzleiter gesagt, und als sie dagegenhielt, dass sie ohne Erlaubnis des Eigentümers, nämlich der Diözese, den Schlüssel keinesfalls aus der Hand gebe, hatte er doch tatsächlich telefonisch die Einwilligung des bischöflichen Sekretariats eingeholt. Lidia stellte vor der Muttergottesstatue eine Kerze auf, betete einen Rosenkranz und wünschte die Polizisten möglichst bald zum Teufel. Mehr konnte sie beim besten Willen nicht tun.
    Die anderen Dorfbewohner versuchten im Laufe des Morgens, sich über den Stand der Dinge klar zu werden.Offensichtlich befand sich ein Terrorist, der Geiseln genommen hatte, mitten in Montesecco. Dass es sich dabei um denselben handelte, der Oberstaatsanwalt Malavoglia auf dem Gewissen hatte, war schon wegen des Granatwerferschusses mehr als wahrscheinlich.
    Wie der Täter unbemerkt in den Ort gelangt war, konnte man sich noch erklären. Er musste ausgenutzt haben, dass fast alle Dorfbewohner unmittelbar nach dem Anschlag zu Malavoglias brennendem Wagen hinausgefahren waren. Aber warum versteckte er sich überhaupt in Montesecco? Wieso ausgerechnet in dem ehemaligen Laden oberhalb der Piazza, wo sich Catia Vannonis Sohn Minh vor drei Monaten ein Büro eingerichtet hatte? Und was war mit Minh?
    Der Junge schien spurlos verschwunden zu sein, und zwar schon eine ganze Weile. Im Trubel der vergangenen vierundzwanzig Stunden war sein Fehlen zunächst nicht aufgefallen, doch jetzt dachte man genauer zurück. Weder abends in der Bar, als sie alle vor dem Fernseher saßen, noch draußen auf der Landstraße noch auf der Piazzetta nach Ivans Glockengeläute war Minh gesehen worden. Zuletzt hatte Franco Marcantoni mit ihm gesprochen. Um circa 9 Uhr hatte er ihn in seinem Büro aufgesucht, um ihn um einen Gefallen zu bitten.
    Es ging dabei um

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