Die Augen der Medusa
eine drei Jahre alte Wasserrechnung, die von MEGAS hartnäckig angemahnt wurde, obwohl Franco sie längst bezahlt hatte. Er hatte ein paar Mal telefoniert, doch die Bürokraten in der Rechnungsstelle des Wasserversorgers konnten ohne den Einzahlungsbeleg angeblich nichts machen. Franco hatte sich aufgeregt. Er würde mindestens einen halben Tag verlieren, wenn er extra deswegen nach Pergola zur Post fahren müsse. Der MEGAS -Mensch hatte ihn gefragt, ob er nicht Zugang zu einem Faxgerät habe, und Franco hatte zurückgebellt, dass er in Montesecco lebe, das sei wohl Antwort genug. Doch nach dem Telefonat hatte er sich besonnen.
Für so etwas war Minh zuständig. Er war zwar erst siebzehn Jahre alt, hatte aber schon seine eigene Ein-Mann-Firma gegründet. Softwareentwicklung, Webdesign und andere Dinge, von denen weder Catia, auf die das Unternehmen offiziell eingetragen war, noch irgendein anderer Dorfbewohner die geringste Ahnung hatte. Auch Minh, wenn man ihn überhaupt zu Gesicht bekam, sprach nicht über seine Arbeit. Man wusste nur, dass in seinem Büro drei Computer standen, vor denen er oft tage-und nächtelang saß.
Wie sich herausstellte, besaß auch er kein Faxgerät, aber eine Art Kopierer, mit dem man – wie Franco anerkennend feststellte – einen Zahlungsbeleg ruck, zuck in den Computer holen und elektronisch versenden konnte. Minh und er hätten noch ein wenig gequatscht und dann gemeinsam das Büro verlassen. Das sei gegen halb 10 Uhr gewesen, also etwa zwei Stunden vor dem Attentat.
»Ich habe ihn noch aufgezogen«, sagte Franco, »habe ihn gefragt, ob er auf dem Weg zu seiner Verlobten sei, aber darauf ist er natürlich nicht eingegangen. Ihr kennt ihn ja!«
Minh war ein hübscher Junge, der mit seinen leicht asiatischen Gesichtszügen sicher auf manches Mädchen interessant wirkte. Eine Freundin hatte er trotzdem nicht. Vielleicht war er ein wenig zu schüchtern, vielleicht zu ernsthaft oder auch nur ein Spätentwickler, bei dem der Knoten schon noch irgendwann platzen würde. Besser so, als dass er jede Nacht durch die ganze Provinz von Disco zu Disco zog, um Mädchen aufzureißen, und dabei womöglich in schlechte Gesellschaft geriet. Verrückte Mutproben, Schlägereien, Drogenkonsum, Autounfälle unter Alkoholeinfluss – wovon las man nicht jede Woche von neuem im Corriere Adriatico !
»Minh wurde rot wie eine Tomate«, sagte Franco, »und als ich ihm zuzwinkerte und fragte, wie sie denn heiße und ob sie hübsch sei, schüttelte er bloß den Kopf. Er habenoch jede Menge zu tun und wolle sich nur mal kurz die Beine vertreten.«
»Also ist er wieder ins Büro zurückgekehrt?«, fragte Matteo Vannoni. Franco konnte das genauso wenig wie alle anderen beantworten. Zu Hause hatte Minh sich jedenfalls nicht sehen lassen. Das hatte seine Mutter Catia bestätigt, bevor sie zum Pfarrhaus hinübergegangen war, um der Einsatzleitung der Polizei mitzuteilen, dass ihr Sohn nirgends aufzufinden sei. Bei den wenigen Freunden, die er während der Schulzeit und seiner kurzzeitigen Mitgliedschaft im Lenkdrachenverein von Urbino gewonnen hatte, hatte Catia schon vorher angerufen, doch keiner hatte weiterhelfen können. Deshalb ging man davon aus, dass Minh die Wahrheit gesagt und sich wirklich gleich wieder an die Arbeit gemacht hatte.
Und wenn das so war, hatte er sich wohl ganz allein im Dorf aufgehalten, als der Attentäter hier Zuflucht suchte. Vielleicht hatte er ihn bemerkt, einen Mann mit einem Granatwerfer, kurz nach drei Granateinschlägen, die wirklich nicht zu überhören gewesen waren. Minh hatte eins und eins zusammengezählt und sich aus dem Staub gemacht. Das könnte erklären, warum er nun nirgends zu finden war. An diese Theorie hätte man zumindest gern geglaubt, aber es blieben einfach zu viele Ungereimtheiten.
Wäre Minh denn nicht über die Landstraße zu seinen Verwandten und Nachbarn geflohen? Und wenn er sich irgendwo versteckt hätte, wäre er dann nicht spätestens am Abend in der Bar oder sonstwo aufgetaucht? Zumindest hätte er doch angerufen! Und konnte man sich wirklich vorstellen, dass der Attentäter mit dem Granatwerfer unter dem Arm durch Montesecco gelaufen war? Den dreifachen Knall hatte auch keiner der anderen Dorfbewohner sofort richtig eingeordnet. Wieso hätte Minh Verdacht schöpfen, warum hätte er fliehen sollen?
Nein, ob der Attentäter nun Minh entdeckt hatte oderumgekehrt, Minh hätte keinen Grund gehabt, panisch zu reagieren. Er nicht, wohl aber der Killer.
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