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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Führers, Franz Beckenbauer, ein.
    Herr im Himmel!, dachte Costanza, die Deutschen marschieren ein, und keiner bemerkt es. Niemand befand sich auf der Piazza, die Fenster des Ladens waren dunkel, die Tür geschlossen. Vielleicht hatten sie dort schon geplündert. Vielleicht lag der Ladenbesitzer schon mit eingeschlagenem Schädel zwischen leeren Mehlsäcken. Was wollten die Soldaten sonst hier? Es war Krieg, sie würden Haus für Haus durchsuchen und danach in Brand setzen. Sie würden die jungen Männer inhaftieren oder gleich an die Wand stellen, Carlo Lucarelli und Benito Sgreccia und Gianmaria Curzio, den Ladenbesitzer mit dem schiefen Lächeln. Sie würden die Frauen zum Arbeitseinsatz abtransportieren, würden Kinder und Alte hinaus in die Wälder jagen. Und wenn sie nichts mehr zu essen hatten, würden sie Costanzas Katzen schlachten.
    Sie musste etwas tun. Sie konnte nicht einfach zusehen, wie die Deutschen Montesecco dem Erdboden gleichmachten.Sie musste die anderen warnen. Aber wie? Costanza konnte die Lippen nicht bewegen. Sie versuchte sich aus dem Griff des Soldaten zu winden, merkte aber gleich, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen war. Sie schaffte es gerade, ihre Hand zu öffnen und den Stock fallen zu lassen. Mit dumpfem Ton schlug er auf die Steinstufen. Dann entspannte Costanza all ihre Muskeln. Ihre Knie wurden weich, ihr Kopf sank zur Seite, ihr Körper hing schlaff im Arm des Deutschen. Costanza Marcantoni war fünfundachtzig Jahre alt. Da konnte man leicht an einem Herzinfarkt sterben, wenn man hinterrücks und brutal von ausländischen Truppen überfallen wurde.
    Enrico Munì fragte sich, was plötzlich mit der Alten war. Er hatte sie doch nur ganz zart angefasst, gerade fest genug, um zu verhindern, dass sie irgendwelchen Unsinn anstellte. Wahrscheinlich war sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Munì kniete nieder, ließ den leblosen Körper langsam auf die Steinstufen sinken und nahm dann zögernd die Hand vom Mund der Alten. Als er seine Taschenlampe anknipste, achtete er darauf, den Lichtschein mit der Hand gegen das Zielobjekt abzuschirmen. Trotzdem zischte ihn Nummer 1 an, ob er verrückt geworden sei.
    Der Griff von Munìs Fingern zeichnete sich auf dem runzligen Gesicht der Alten ab. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Lippen auch. Die Luft war eiskalt, doch man sah ihren Atem nicht. Sie war doch nicht etwa … Munì schaltete die Taschenlampe aus.
    »Schaff sie weg!«, flüsterte Nummer 1.
    »Die atmet nicht mehr«, flüsterte Munì zurück. Zivile Verluste waren unbedingt zu vermeiden, lautete die Anweisung, und jetzt lag da eine alte Frau wie tot vor ihm. Er schüttelte den Kopf. Er konnte nichts dafür. Er hatte ihr nur den Mund zugehalten. Wenn sie geschrien hätte, wäre der ganze Einsatz geplatzt. Was hätte Munì denn verdammt nochmal tun sollen? Wieso musste sie auch mitten in derNacht draußen in der Kälte herumlaufen? Eine alte Frau, die Munìs Großmutter sein könnte. Er hatte keine Großmutter mehr. Sie waren beide gestorben, die eine bei einem Autounfall, die andere an Krebs.
    »Bereit machen für den Zugriff!«, sagte die Stimme des Einsatzleiters aus dem Kopfhörer.
    »Fort mit ihr!«, flüsterte Nummer 1.
    Wieso fort? Wohin denn? Man musste augenblicklich Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten. Die Sanitätseinheit stand viel zu weit entfernt, noch hinter dem Friedhof. Munì sah nicht die geringste Möglichkeit, die Frau rechtzeitig dorthin zu schaffen. Er begann, ihr beidseitig Klapse auf die Wangen zu geben. Das Gesicht kippte willenlos von links nach rechts und zurück. Sie konnte doch nicht einfach so gestorben sein, nur weil Munì …
    »Bist du total durchgedreht?«, zischte Nummer 1. »Du wirfst sie dir über die Schulter und bringst sie hier heraus! Sofort!«
    Über die Schulter? Wie einen Sack Kartoffeln? Wie einen verfluchten Granatwerfer?
    »Das ist ein Befehl!«, zischte Nummer 1.
    Munì schob einen Arm unter der Achsel der Alten durch, den anderen unter den Kniekehlen. Dann hob er sie an, hielt sie waagerecht vor seiner Brust. Sie war federleicht, nur Haut und dünne Knochen, als sei das Leben und alles, was in ihm Gewicht hatte, schon längst in ihr erloschen. Munì hätte gern gewusst, ob das stimmte, doch mit Sicherheit konnte er nur sagen, dass sie vor wenigen Minuten noch grummelnd durch die Gassen ihres Dorfes gegangen war. Bis er zugepackt hatte. Er hätte sie nur am Schreien hindern sollen, doch er hatte ihre Lippen ein für allemal versiegelt.

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