Das böse Auge
Prolog
Dort, wo die Düsterzone weit im Osten des gewaltigen Shalladad an die Reiche Weddon und Ayland stieß, wo das Dunkle Land gebirgig und zerklüftet war, dort war der Sitz der mächtigen und gefürchteten Hexe Quida.
Ihre Burg stand auf dem Gipfel des höchsten Berges. Eine Pein für das Auge war sie, herausgehauen aus dem Fels, mit schlanken, spitzen Türmen und schiefen Mauern. Grausige Kreaturen schlichen durch die Höfe und heulten von den Zinnen, wenn die Düsternis am stärksten war und die Mächte der Finsternis sich regten. Drachen zogen ihre weiten Kreise um die Türme und stießen tief ins Land vor, immer auf der Suche nach Feinden der Hexe oder Beute. Oft saß Quida auf dem Rücken eines solchen Riesen und unternahm lange Ausflüge bis hin zur Grenze der Schattenzone. Sie war der Sprache ihrer Tiere mächtig und schickte sie gegen alles, was sich in ihr Reich verirrte.
Nun war es nicht so, daß Quida dieser Streitmacht bedurfte. Sie fühlte sich selbst mächtig und stark genug, um auf ein Heer von Sklaven verzichten zu können. Kein Sterblicher hatte je ihrer Magie zu trotzen vermocht. Und wenn ihre Zauberkunst einmal versagte, so hatte sie immer noch das Böse Auge als ihre gefürchtetste und schrecklichste Waffe. Wehe dem, der in dieses Auge sah! Wehe dem Vermessenen, der sich stark genug glaubte, die Hexe und ihre Macht auf die Probe zu stellen!
Einer hatte es getan, ein Mann, ein Sterblicher. Dieser Mensch hatte es gewagt, den Zorn der Hexe zu erregen – wenngleich er nicht einmal von ihr wußte.
Der Mond stand voll am Himmel, dort, wo die Düsterzone an das Ayland grenzte, als Quida, rasend vor Wut, von den Zinnen des höchsten Turmes in die Finsternis hinausblickte. Sie hatte die Gestalt eines häßlichen alten Weibes angenommen, in der sie Furcht und Schrecken verbreitete und sich immer dann, wenn es geboten war, den nötigen Respekt verschaffte. Der Wind zerrte an ihren verfilzten schwarzen Haaren und ließ den dunklen Umhang um den häßlichen Körper wehen. Doch Quidas Augen funkelten wie glühende Kohlen, und sie waren geradewegs auf die Schattenzone gerichtet.
Einer ihrer Drachen hatte ihr die Kunde von dem gebracht, was ihrem Freund, dem Hexer Lazuli, widerfahren war. So wußte sie, daß Lazuli niemals wieder zusammen mit ihr die Mächte der Finsternis beschwören, niemals mehr mit ihr auf Jagd gehen und nie wieder ihre Einsamkeit teilen würde. Lazulis Macht war gebrochen. Fürchterlich gestraft hatte ihn kein geringerer als der Rachedämon Achar, weil er sich an dessen Opfer vergreifen wollte.
Quidas Zorn galt jedoch nicht dem Dämon, sondern dem Opfer – einem Sterblichen mit dem Namen Luxon.
Ohne mit Achar in Kontakt zu treten, hatte die Hexe sich von einem der Drachen nach Lazulis Burg tragen lassen und dort genug herausgefunden, um nun zu wissen, warum Lazuli so übel mitgespielt worden war.
Es war sein großer Fehler gewesen, daß er den Sterblichen töten wollte. Und dies konnte der Rachedämon nicht hinnehmen.
Allerdings, so überlegte die Hexe, konnte Achar wohl kaum etwas dagegen haben, wenn das von ihm auserkorene Opfer » nur « mißhandelt wurde. Denn Rache bestand im Grunde aus Demütigung und arger Bestrafung. Achar konnte es dann nur willkommen sein, wenn er darin unterstützt wurde. So gut kannte Quida die Dämonen im allgemeinen und den Rachedämon im besonderen.
Und ganz sicher würde Achar verhindern wollen, daß der Sterbliche aus der Düsterzone und damit aus seinem Einflußbereich entfliehen konnte. Nur hier war er wirklich ein Spielball der dunklen Mächte.
Das waren Quidas Gedanken. Achar würde es nur begrüßen, wenn sie nun auszog, um dem Mann Luxon alle Qualen angedeihen zu lassen, deren sie mächtig war. Es sollte ihr nicht schwerfallen, ihn zu finden und ihn in einer ihrer Verwandlungen in ihre Burg zu locken. Es war angebracht, sich gut mit dem Dämon zu halten. Wenn sie Luxon also nun für das bestrafte, was mit Lazuli geschehen war, tat sie sich gleich zwei Dienste.
In ihrem grenzenlosen Zorn malte sie sich bereits aus, wie der Sterbliche für Lazuli büßen sollte. Und bald schon sollte er bereuen, jemals geboren worden zu sein, seine leibhaftige Mutter verfluchen und Quida um einen gnädigen Tod bitten.
Der Tod aber war das einzige, das sie ihm nicht geben konnte.
Als Höhepunkt der Bestrafung sollte er ins Böse Auge sehen – ins Böse Auge der Quida.
Von ihrem Haß angetrieben, versiegelte die Hexe ihre Felsenburg und rief
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