Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Nightmare Boy mich mit seinem Messer ausweidete.
»Wach auf, Mia«, befahl ich mir selbst mit einer Stimme, die heiser und kratzig klang.
Der Typ wich erschrocken einen Schritt von meinem Bett zurück und ließ das Messer fallen, das mit einem dumpfen Geräusch in den Holzdielen stecken blieb. Es musste sehr scharf sein. Er zog es eilig wieder heraus, schien jedoch unschlüssig, was er damit tun solle. Auf seinem Gesicht lag ein Schatten, doch das Weiß seiner weit aufgerissenen Augen und seine ruckartigen Bewegungen verrieten mir, dass er ebenso verängstigt war, wie ich es hätte sein sollen. Für eine Figur aus einem Albtraum war er gar nicht so übel. Deshalb entschied ich, einfach weiterzuschlafen.
Ich schloss die Augen in der Hoffnung, mich in einem neuen Traum wiederzufinden.
Doch diese Nacht brachte keine weiteren Träume, nur die leise zurückweichenden Schritte von Nightmare Boy.
Als ich die Augen wieder öffnete, fühlte ich mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Der Morgen, vor dem mir gegraut hatte, war angebrochen. Der Morgen, an dem mein Bruder Parker und ich zum ersten Mal seit dem Erdbeben wieder zur Schule gehen würden.
Irgendwo im Haus hatten wir ein Traumdeutungsbuch herumliegen. Ich war mir ziemlich sicher, es hätte meinen Verdacht bestätigt, dass es ein schlechtes Omen ist, wenn man von einem Messer träumt. Allerdings brauchte ich kein Omen, um zu wissen, dass dieser Tag nicht gut enden würde.
Als ich mich aus dem Bett kämpfte, bemerkte ich einen kleinen Spalt im Fußboden, genau dort, wo sich das Messer von Nightmare Boy in die Dielen gebohrt hatte. Seltsam. Andererseits gab es jede Menge kleine Spalte und Risse in dem alten Boden meines renovierten Dachzimmers.
Ich verdrängte meine Erinnerung an den Traum. Schließlich hatte ich andere Probleme – echte Probleme –, über die ich mir Gedanken machen musste. Ich wusste nicht, was mich in der Schule erwarten würde, wenn die Veränderungen, die sonst in der Stadt stattgefunden hatten, jedoch ein Vorgeschmack waren, täte ich vermutlich gut daran, mit dem Schlimmsten zu rechnen – wie üblich.
Danke für die Warnung, Nightmare Boy. Leider wird sie mir nichts nützen.
2
I ch stand vor Moms Schlafzimmertür und lauschte Prophets gedämpfter Stimme. Ich verstand nicht, was er sagte, da meine Mutter sich aber seit einem Monat wie besessen seine Fernsehpredigten ansah, konnte ich mir ungefähr vorstellen, um welches Thema es ging.
Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor.
Wer Prophet seine Seele anvertraut, wird gerettet werden.
Wer sie ihm nicht anvertraut, wird leiden und sterben und noch mehr leiden.
Ja, ja, ja. Wir haben dich schon beim ersten Mal gehört.
»Mom?« Ich klopfte an die Tür, bevor ich auf die Klinke drückte. Es war sieben Uhr morgens, und draußen schien die Sonne, doch Moms Schlafzimmer glich einer Höhle. Sie saß in ihrem schmuddeligen Bademantel, den sie seit Tagen nicht mehr ausgezogen hatte, am Fenster und spähte durch die Lamellen der Jalousien. Ihr Blick wanderte immer wieder vom Fenster zum Fernseher, in dem Die Stunde des Lichts lief, die Morgensendung von Rance Ridley Prophet. Er hatte drei Sendungen am Tag: morgens, mittags und abends. Seit wir Mom aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatten, war sie von Prophet besessen. Sie verpasste keine seiner Sendungen, es sei denn, der Strom oder das Kabelfernsehen fielen aus. Inzwischen freute ich mich beinahe auf solche Ausfälle.
»Brüder und Schwestern«, psalmodierte Prophet. »Gott wird bald Sein Schlussurteil fällen. Ihr müsst euch jetzt entscheiden, auf welcher Seite ihr steht – auf der Seite des Himmels oder auf der Seite der Erde und ihrer frevelhaften weltlichen Freuden. Werdet ihr emporgehoben und ins Paradies entrückt oder von Gottes schrecklicher Vergeltung hingestreckt werden?«
Prophets Stimme übertönte meine Schritte. Manchmal fragte ich mich, ob Moms Hörvermögen bei dem Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sie schien überhaupt nicht wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Der Arzt, der sich ganze fünf Minuten um sie gekümmert hatte, bevor er ihr Bett jemandem gab, der es dringender benötigte, hatte gesagt, es gehe ihr gut. Sie sei unterernährt und dehydriert, doch sie werde überleben. Da sie drei Tage lang unter einem eingestürzten Gebäude verschüttet gewesen war, hatte sie einige üble Quetschungen, ein paar gebrochene Rippen und ein Dutzend Schnittwunden im Gesicht und an den Armen
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