Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Prolog
W enn man so oft vom Blitz getroffen wurde wie ich, rechnet man irgendwann ständig mit dem Schlimmsten. Man ist sich nie sicher, wann wieder eine jener gezackten, mit Millionen Volt elektrischer Spannung aufgeladenen Linien weißen Feuers vom Himmel herabschießen und einen treffen wird. Wann sie einen wie eine Kugel durchbohren oder einem das Haar in Asche verwandeln wird. Einem die Haut versengen wird, bis sie schwarz ist, oder dafür sorgen wird, dass einem das Herz stehen bleibt. Dass man erblindet oder taub wird. Oder beides.
Manchmal spielen Blitze ein bisschen mit einem, heben einen in die Luft und lassen einen zwanzig Meter entfernt wieder fallen, ziehen einem die Schuhe aus oder brennen einem die Kleider vom Leib und lassen einen nackt und dampfend im Regen zurück. Blitze können die letzten Stunden oder Tage aus dem Gedächtnis löschen oder das Gehirn überladen, die Persönlichkeit kurzschließen und einen zu einem völlig anderen Menschen machen. Ich habe von einer Frau gehört, die vom Blitz getroffen und dabei von Krebs im Endstadium geheilt wurde. Und von einem Querschnittsgelähmten, der anschließend wieder gehen konnte.
Manchmal kommt es auch vor, dass man vom Blitz getroffen wird und die Person, die neben einem steht, im Krankenhaus landet. Oder in der Leichenhalle.
All das kann passieren oder nichts von alledem. Oder irgendetwas, von dem noch nie jemand gehört hat. Bei Blitzen kann man sich nie sicher sein, was sie mit einem anstellen werden. Blitze können einen in eine Art menschliche Batterie verwandeln, können Energie in einem speichern und einem das bleibende Gefühl vermitteln, dass man jeden Moment aus heiterem Himmel in Flammen aufgehen könnte. Dass eine Bombe in einem hochgehen und das tun könnte, was Bomben nun einmal am besten können.
Vielleicht geht es aber auch nur mir so.
Ich heiße Mia Price, und ich bin ein menschlicher Blitzableiter. Gibt es für Leute wie mich eine Selbsthilfegruppe? Die sollte es geben, und ich kann auch erklären, warum.
Ich heiße Mia Price, und ich bin blitz süchtig .
So, jetzt ist die Katze aus dem Sack. Ich möchte vom Blitz getroffen werden. Ich sehne mich danach, wie sich die Lunge nach Sauerstoff sehnt. Es gibt nichts, was einem ein stärkeres Gefühl von Lebendigkeit vermittelt, als vom Blitz getroffen zu werden. Es sei denn, man wird dabei getötet. So ergeht es mir hin und wieder, deshalb bin ich nach Los Angeles gezogen. Wie es in einem bekannten Song so schön heißt, in Südkalifornien regnet es nie. Aber in diesem Song heißt es auch, wenn es schüttet, dann schüttet es.
Der Song hat Recht.
Es ist inzwischen ein Jahr her, dass ich zum letzten Mal vom Blitz getroffen wurde. Trotzdem rechne ich ständig mit dem Schlimmsten. In Los Angeles schlägt jedes Jahr nur ein paarmal der Blitz ein. Das Problem ist, dass ich Gewitter gegen Erdbeben eingetauscht habe, gegen ein Erdbeben im Besonderen. Gegen das Erdbeben, das die Stadt – und mein Leben – für immer verändert hat.
An jenem Tag, dem Tag, als die Vereinigten Staaten von der wahrscheinlich furchtbarsten Naturkatastrophe aller Zeiten heimgesucht wurden … regnete es.
Nein, es schüttete .
Erster Teil
Der Blitz schlägt nie zweimal
am selben Ort ein.
Sprichwort
14. April
Drei Tage vor dem Unwetter …
1
I ch schlafe nicht viel. Eine Stunde hier, zwei Stunden da. Meine chronische Schlaflosigkeit ist allerdings eine der erträglicheren Blitzschlag-Nachwirkungen. Sie ist nicht so schlimm wie die roten adrigen Narben, die mich von Kopf bis Fuß bedecken, oder wie das Brennen in meiner Brust, das jedes Mal aufflammt, wenn ich ein bisschen emotional werde. Schlaflosigkeit? Pah! Es könnte schlimmer sein – und das ist es in der Regel auch. Die meisten Leute wünschen sich, der Tag hätte mehr Stunden. Mir bleiben fast die vollen vierundzwanzig.
Wenn ich mich abends ins Bett lege, tue ich das nicht mit der Absicht zu schlafen. Wenn ich einschlafe, gut. Wenn nicht, nun ja, das bin ich inzwischen gewöhnt.
Als ich die Augen öffnete und jemanden vor meinem Bett stehen sah, nahm ich an, dass ich doch eingeschlafen war. Und als ich das silbrig glänzende Messer in seiner Hand bemerkte – mit der Art von hübscher, dekorativer Klinge, für die es keine andere praktische Verwendung gibt als Mord –, beschloss ich, dass ich diesen Traum nicht zu Ende träumen wollte. Es wäre schön gewesen, noch ein bisschen länger zu schlafen, doch ich musste aufwachen, bevor
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