Die Auserwählten - Im Labyrinth (German Edition)
dicke Stangen aus der Mauerkante, im selben Abstand wie die Löcher auf der anderen Seite. Ihr Sinn und Zweck war offensichtlich.
»Das ist kein Witz?«, fragte Thomas, wobei sich ihm der Magen umdrehte. »Du willst mich nicht verarschen? Die Mauern bewegen sich wirklich?«
»Na, was sollen sie denn sonst tun?«
Thomas bekam diese Vorstellung einfach nicht in seine Hirnwindungen. »Ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht gibt es eine Tür, die zufällt, oder eine kleinere Mauer, die aus der größeren herausfährt. Wie können sich diese Mauern bewegen? Sie sind riesig und sehen aus, als würden sie seit tausend Jahren so dastehen.« Und die Vorstellung, dass diese Wände sich schließen und ihn hier auf diesem Gefängnishof einschließen könnten, war zutiefst beängstigend.
Frustriert zuckte Chuck mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Sie bewegen sich halt. Macht einen Riesenradau. Draußen im Labyrinth passiert dasselbe – die Mauern verschieben sich da auch jede Nacht.«
Bei diesem neuen Detail wachte Thomas plötzlich auf. »Was hast du gerade gesagt?«
»Häh?«
»Du hast gerade von einem Labyrinth geredet – du hast gesagt: Draußen im Labyrinth passiert dasselbe.«
Chuck lief rot an. »Du gehst mir auf den Geist. Und zwar gewaltig.« Er ging zurück zum Baum, unter dem sie gesessen hatten.
Thomas beachtete ihn nicht, weil ihn das, was außerhalb der Lichtung war, magisch anzog. Ein Labyrinth ? Vor ihm, jenseits des Osttors, sah er Gänge, von denen einer nach links führte, einer nach rechts und einer geradeaus. Die Wände sahen dort draußen ähnlich wie auf der Lichtung aus, der Boden bestand aus denselben Steinquadern. Der Efeu schien dort draußen noch dichter zu sein. Weiter weg sah man weitere Öffnungen in den Wänden, die auf andere Pfade führten; der Gang geradeaus endete ganz weit hinten, sicher hundert Meter entfernt.
»Sieht wirklich aus wie ein Labyrinth«, flüsterte Thomas und hätte beinahe laut gelacht. Als wäre die Lage nicht auch so schon seltsam genug. Sein Gedächtnis war gelöscht und er in ein riesiges Labyrinth verfrachtet worden. Es war alles derart verrückt, dass es fast komisch war.
Das Herz blieb ihm kurz stehen, als auf einmal ein Junge rechts vor ihm um die Ecke bog und im Hauptgang auf ihn und die Lichtung zugerannt kam. Der Junge war völlig nass geschwitzt, sein Gesicht knallrot, die Kleider klebten ihm am Leib, aber er verlangsamte seinen Schritt nicht und würdigte Thomas im Vorbeirennen kaum eines Blickes. Er rannte geradewegs auf das flache Betongebäude zu, das in der Nähe der Box stand.
Thomas folgte dem erschöpften Dauerläufer mit den Augen und fragte sich, warum es ihn eigentlich so überraschte, dass jemand hinaus ins Labyrinth ging. Es war doch nur logisch, dort nach einem Ausgang zu suchen. Dann bemerkte er, dass auch zu den anderen drei Öffnungen Jungen hereingerannt kamen, die genauso erschöpft aussahen wie der erste, der an ihm vorbeigesaust war. Es versprach nichts Gutes, wenn die Jungen derart fertig aus dem Labyrinth zurückkamen.
Neugierig sah er zu, wie die Jungen sich vor der dicken Eisentür des kleinen Gebäudes trafen; einer drehte ächzend an dem rostigen Rad. Chuck hatte vorhin irgendwas über Läufer gesagt. Was hatten sie da draußen gemacht?
Die schwere Tür ging mit einem ohrenbetäubenden Quietschen von Metall auf Metall auf. Die Läufer verschwanden dahinter und zogen die Tür mit einem lauten Knall zu. Thomas’ graue Zellen ratterten wie verrückt, um irgendwie zu begreifen, was er da gerade erlebt hatte. Ihm fiel nichts ein, aber irgendetwas an dem unheimlichen alten Bunker verursachte ihm Gänsehaut.
Jemand zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken: Chuck war wieder da.
Thomas hatte tausend Fragen: »Wer ist das und was haben sie gemacht? Was ist in dem Haus da?« Er drehte sich um und zeigte zum Osttor hinaus: »Und warum wohnt ihr in einem gottverdammten Labyrinth?« Es schien, als würde ihm von den vielen Fragen fast der Kopf platzen.
»Ich sag kein Wort mehr«, gab Chuck mit neuer Selbstsicherheit zurück. »Ich finde, du solltest besser bald ins Bett gehen – du brauchst deinen Schlaf. Ah –« Er unterbrach sich, hielt einen Finger hoch und spitzte die Ohren. »– jetzt kommt’s gleich.«
»Was?«, fragte Thomas und wunderte sich, weil Chuck sich auf einmal wie ein Erwachsener benahm und nicht mehr wie ein kleines Kind, das verzweifelt nach einem Freund suchte.
Durch die Luft
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