Die Auserwählten - Im Labyrinth (German Edition)
Seine Haut war über und über mit dunklen blauen Flecken bedeckt, roten Ausschlägen, blutigen Kratzern. Die rot geäderten Augen traten ihm aus den Höhlen und huschten rastlos hin und her. Das Bild hatte sich bereits in Thomas’ Hirn eingebrannt, als Alby aufsprang und ihm die Sicht verstellte, ihn aus dem Zimmer warf und die Tür hinter ihm zuknallte. Das Geschrei und Gestöhn war immer noch zu hören.
»Was willst du hier oben, Neuer?«, schrie Alby mit blitzenden Augen und ärgerlich verzerrtem Mund.
Thomas war ganz schwach zu Mute. »Ich … äh … ich wollte ein paar Antworten haben«, murmelte er, aber seine Worte klangen kraftlos – er gab auf. Was war bloß mit dem Kranken los? Thomas ließ sich im Flur am Geländer herunterrutschen und starrte zu Boden.
»Beweg deinen Hintern auf der Stelle die Treppe runter«, befahl Alby. »Chuck hilft dir. Wenn du mir vor morgen früh noch mal unter die Augen kommst, hat dein letztes Stündchen geschlagen, das versprech ich dir. Ich schmeiß dich höchstpersönlich die Klippe runter, klar?«
Thomas fühlte sich klein und gedemütigt. Er hatte das Gefühl, auf die Größe einer Fliege zusammenzuschrumpfen. Ohne ein Wort schob er sich an Alby vorbei und rannte, so schnell er es wagte, die ächzende Treppe hinunter. Er ignorierte die starrenden Blicke unten, lief zur Tür hinaus und zog Chuck am Arm mit.
Die Kerle waren schrecklich. Thomas hasste sie. Außer Chuck. »Bring mich bloß weg von den Typen«, sagte Thomas. Ihm wurde klar, dass Chuck wahrscheinlich sein einziger Freund auf der Welt war.
»Logo«, antwortete Chuck munter, als freute er sich, dass er endlich gebraucht wurde. »Aber zuerst müssen wir bei Bratpfanne was zu futtern besorgen.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder essen kann.« Nicht nach dem, was er gerade gesehen hatte.
Chuck nickte. »Doch, kannst du. Wir treffen uns in zehn Minuten. Unterm selben Baum wie vorhin.«
Thomas wollte nur weg von dem Haus und trottete zurück zu dem Baum. Er wusste erst seit ganz kurzem, was es hieß, hier zu leben, und schon hatte er keinerlei Lust mehr darauf. Wenn er sich bloß an etwas aus seinem bisherigen Leben erinnern könnte! An irgendetwas. Seine Mutter, seinen Vater, einen Freund, die Schule, ein Hobby. Ein Mädchen.
Er blinzelte mehrmals schnell, weil er versuchte das Bild loszuwerden, das er da gerade in der Bruchbude gesehen hatte.
Die Verwandlung . Gally hatte es die Verwandlung genannt.
Obwohl es nicht kalt war, schauderte er.
Thomas lehnte sich an den Baum und wartete auf Chuck. Er ließ den Blick über die Lichtung schweifen: An diesem albtraumhaften Ort schien er jetzt leben zu müssen. Die Schatten der Wände waren wesentlich länger geworden und krochen an den gigantischen, efeubedeckten Steinmauern gegenüber empor.
Das ermöglichte Thomas zumindest die Himmelsrichtungen zu bestimmen: Das Holzhaus lehnte sich in die Nordwestecke, wo es bereits in tiefem Schatten stand, das Wäldchen war im Südwesten. Der Bauernhof, auf dem immer noch ein paar Jungs die Felder bearbeiteten, nahm das gesamte nordöstliche Viertel der Lichtung ein. Die muhenden und krähenden und meckernden Tiere waren in der Südostecke untergebracht.
Exakt in der Mitte der Lichtung stand immer noch das klaffende Loch der Box offen, als lüde es ihn ein hineinzuspringen und zurück nach Hause zu fahren. Ganz in der Nähe, vielleicht sechs Meter entfernt, stand ein niedriges Gebäude aus rohen Zementblöcken, an dem es nur eine abweisend wirkende Eisentür, aber keine Fenster gab. An der Tür war etwas, das wie ein rundes Steuerrad aus Metall aussah, mit dem die Tür offensichtlich geöffnet wurde, wie bei einem U-Boot. Trotz allem, was er gerade erlebt hatte, wusste Thomas nicht, was stärker war – die Neugier, herauszufinden, was da drin war, oder die Furcht, es zu erfahren.
Thomas hatte den Blick gerade auf die vier großen Öffnungen in den Wänden gerichtet, als Chuck zurückkam, zwei belegte Brote und Äpfel unterm Arm und zwei Metallbecher mit Wasser in der Hand. Thomas war überrascht, wie erleichtert er sich fühlte – er war doch nicht ganz allein hier.
»Bratpfanne war nicht gerade begeistert, dass ich vor dem Abendessen die Küche gestürmt habe«, sagte Chuck, während er sich unter den Baum setzte und Thomas aufforderte es ihm gleichzutun. Thomas nahm sich eins der Brote, zögerte aber, als ihm der Anblick des sich fürchterlich windenden Jungen wieder vor Augen trat. Doch der
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