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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Ungeheuerlichkeit des Krieges als Elementarverbrechen ist mir zu Bewußtsein gekommen. Monatelang habe ich diese Eisenbahnfahrten in die Schule gemacht, die mich fast nie mehr in die Schule geführt haben, immer nur in einen schließlich beinahe zur Gänze von Bomben verunstalteten und vernichteten Bahnhof, auf welchem Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen umgekommen sind, und viele Tote habe ich selbst unmittelbar nach Angriffen auf den Bahnhof gesehen, wenn ich, weil der Zug gar nicht mehr in den Bahnhof hineinfahren hatte können, zusammen mit einem immer mit meinem Zug fahrenden Mitschüler aus Freilassing, zu Fuß in den Bahnhof hineingegangen bin, zwischen riesigen Bombentrichtern durch. Unser Blick für die Toten war in dieser Zeit geschärft worden. Oft standen wir völlig unbehelligt auf dem Bahnhofsgelände herum, das bald nur noch ein einziges Trümmerfeld gewesen war, und beobachteten die nach Toten suchenden und grabenden Eisenbahner, die ihre Fundstücke auf den wenigen noch verbliebenen ebenen Flächen ablegten, einmal habe ich ganze Reihen von aneinandergelegten Toten da gesehen, wo heute die Bahnsteigtoiletten sind. Die Stadt war jetzt nurmehr noch grau und gespenstisch, und die Lastwagen und die holzgasbetriebenen Personenwagen mit ihren in den Wagenhintern hineingeschweißten Kesseln transportierten, so schien es, nurmehr noch Särge. In der letzten Zeit, bevor alle Schulen geschlossen worden waren, war ich nur noch selten mit dem Zug überhaupt bis Salzburg gekommen, meistens hatte der Zug schon vor Freilassing angehalten, und die Leute sind aus dem Zug hinausgesprungen und waren in den Wäldern links und rechts des Zuges in Deckung gegangen. Doppelrumpfige englische Jagdbomber nahmen den Zug in Beschuß, das Knattern der Bordkanonen habe ich heute noch genauso im Ohr wie damals, die Äste flogen, unter den auf den Waldboden Geduckten herrschten Angst und Stille, aber eine schon längst zur Gewohnheit gewordene Angst und Stille. So auf dem feuchten Waldboden hockend, mit eingezogenem Kopf, aber doch neugierig nach den feindlichen Flugzeugen Ausschau haltend, verzehrte ich den mir von meiner Großmutter oder von meiner Mutter in die Schultasche gesteckten Apfel und das Schwarzbrot. Waren die Flugzeuge weg, rannten die Leute wieder zum Zug und stiegen ein, und der Zug fuhr ein Stück, aber er fuhr nicht mehr nach Salzburg, die Geleise nach Salzburg waren längst zerrissen. Aber sehr oft konnte der Zug gar nicht mehr weiterfahren, weil die Lokomotive in Flammen aufgegangen und zerstört und der Lokomotivführer von den englischen Bordschützen getötet worden war. Aber meistens waren nicht die Züge auf der Fahrt nach Salzburg angegriffen worden, sondern die in Richtung München. Mit Vorliebe benützte ich für die Heimfahrt, solange sie verkehrten, die sogenannten Fronturlauberzüge, Schnellzüge mit diagonal blaudurchstrichenen weißen Schildern auf den Wagen, was nicht erlaubt, aber allen Schülern längst zur Gewohnheit geworden war. In diese Züge hatte man nur durch die Fenster ein- und aussteigen können, so überfüllt sind sie gewesen, und die meiste Zeit bin ich zwischen Salzburg und Traunstein zwischen den Wagen und also nur in den sogenannten Verbindungsfalten der aneinandergekoppelten Waggons, zwischen Soldaten und Flüchtlingen eingequetscht, gefahren, und es hatte der äußersten Anstrengung bedurft, in Salzburg hinein und in Traunstein wieder
aus
dem Zug zu kommen. Diese Züge sind beinahe jeden zweiten Tag aus der Luft überfallen worden. Die Engländer in ihren sogenannten Lightnings beschossen die Lokomotive und töteten den Lokführer und waren wieder weg. Die Maschinen brannten aus, die toten Lokführer wurden immer in das nächstgelegene Bahnwärterhaus gebracht und dort abgelegt, ich habe viele in Bahnwärterhäusern durchs Kellerfenster beobachten können, mit durchschossenem Schädel oder völlig zerschlagenem Kopf, ich sehe sie noch, die tiefblaue Eisenbahneruniform mit dem zerfetzten Eisenbahnerkopf hinter dem Kellerfenster. Der Umgang mit den Toten ist zu einem alltäglichen geworden. Im Spätherbst sind die Schulen geschlossen, auch das Internat aufgelassen worden, wie ich gehört hatte, und meine Zugfahrten nach Salzburg, die immer schon vor Freilassing endeten, hatten aufgehört. Aber ich war nicht lange abwechselnd bei meiner Mutter in Traunstein und bei den Großeltern in dem nahegelegenen Ettendorf beschäftigungslos gewesen, nur ein paar Tage, dann hatte ich bei

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