Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
Vom Netzwerk:
nur wenig Stärkeren, gewesen waren, dem Grünkranz waren die schwachen und schwächeren und durch diese Schwäche beinahe immer unpünktlichen Zöglinge immer für seine Ohrfeigen willkommen gewesen, er hatte dieses schwache oder auch nur geschwächte
Menschenmaterial
(Grünkranz) für seine krankhaft-sadistischen Zustände gebraucht und mißbraucht. Noch war die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt, und täglich kamen Hunderte, wenn nicht Tausende neue an, die Fronten waren immer enger gezogen, mehr und mehr hatte sich Militär unter die Zivilbevölkerung gemischt, und man lebte in äußerster Anspannung zusammen, die Atmosphäre ist, auch für uns erkennbar, eine explosive gewesen, alles schaute nach dem verlorenen Krieg aus, von welchem mein Großvater schon lange Zeit gesprochen hatte, aber im Internat ist natürlich von einem solchen verlorenen Krieg nicht gesprochen worden, im Gegenteil. Grünkranz vermittelte noch immer, aber jetzt schon verzweifelt, Siegesstimmung, aber selbst im Internat glaubte ihm kein Mensch mehr. Mir hatte seine Frau immer leid getan, denn sie hatte wahrscheinlich immer unter diesem Mann gelitten, aber jetzt war er tatsächlich ganz offen nurmehr noch eine bösartige Natur, unter welcher vor allem seine Frau zu leiden hatte. Eine hölzerne Notbrücke ersetzte die schon lange abgetragene alte Staatsbrücke, erinnere ich mich, und auf dieser größten Baustelle in der Stadt sehe ich heute noch die in grauschmutzigen abgesteppten Kleidern an den Brückenpfeilern hängenden russischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter, ausgehungert und von rücksichtslosen Tiefbauingenieuren und Polieren zur Arbeit angetrieben; viele von diesen Russen sollen entkräftet in die Salzach gefallen und abgetrieben worden sein. Die Stadt machte auf einmal einen verkommenen Eindruck, sie war plötzlich auch eine jener den Luftangriffen ausgelieferten, sehr schnell ihr Gesicht verlierenden deutschen Städte, häßlicher und häßlicher geworden in ein paar Wochen und Monaten im Herbst vierundvierzig, so waren nurmehr noch wenige Fensterscheiben in ihr ganz gewesen, viele Häuserzeilen hatten überhaupt keine Fenster mehr, nur Pappendeckel- und Bretterholzverschalungen, und die Auslagen waren vollkommen ausgeräumt. Alles war nurmehr noch
notdürftig
. Die Häßlichkeit und der Verfall aber, rasch fortgeschritten in dieser nicht nur von den Bombenangriffen und ihren Folgen verunstalteten Stadt, sondern auch durch die über sie herfallenden schließlich Tausende von Flüchtlingen in eine durch und durch chaotische verwandelt, gaben ihr aufeinmal menschliche Züge, und so habe ich diese meine Heimatstadt nur in dieser Zeit, weder vorher noch nachher, tatsächlich inständig lieben können und auch inständig geliebt. Jetzt, in der höchsten Not, war diese Stadt plötzlich das, was sie vorher niemals gewesen war, eine lebendige, wenn auch verzweifelte Natur als Stadtorganismus, das tote und verlogene Schönheitsmuseum, das sie bis zu diesem Zeitpunkt ihrer größten Verzweiflung immer gewesen war, hatte sich mit Menschlichkeit angefüllt, der versteinerte Stumpfsinn als toter Körper war in seiner höchsten Verzweiflung und Ausweglosigkeit aufeinmal erträglich und von mir geliebt gewesen. Die Menschen lebten in dieser Stadt zu diesem Zeitpunkt nurmehr von einem sogenannten Lebensmittelaufruf zum andern, und sie dachten an nichts anderes mehr als zu überleben, wie, war ihnen schon gleichgültig geworden. Sie hatten keine Ansprüche mehr und waren vollkommen im Stich gelassen von allem, und sie sahen so aus. Daß das Kriegsende nurmehr noch eine Frage der kürzesten Zeit war, ist allen klar gewesen, wenn das auch noch von den wenigsten zugegeben worden war. Mit Hunderten von sogenannten Kriegsversehrten, auf den Schlachtfeldern verstümmelten Soldaten, war ich in dieser Zeit in der Stadt konfrontiert gewesen, und die ganze Dummheit und Niederträchtigkeit des Krieges und Armseligkeit seiner Opfer ist mir zu Bewußtsein gekommen. In dem ganzen Chaos, das die Stadt damals gewesen war, hatte ich aber noch immer meine Geigenstunden, und an den Donnerstagabenden mußten wir auf den Sportplatz, uniformiert den Schikanen des Grünkranz auf der Aschenbahn oder auf dem Rasen ausgeliefert. Ihm hatte nur eines an mir, und das natürlich nur die kürzeste Zeit, Eindruck gemacht: daß ich bei den jährlich stattfindenden sportlichen Wettkämpfen im Fünfzig- und im Hundert- und im Fünfhundert- und im

Weitere Kostenlose Bücher