Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Tausendmeterlauf
unschlagbar
gewesen und dafür zweimal auf einem eigens für diese Zeremonie der Siegerehrung auf dem Gnigler Sportplatz zusammengezimmerten und aufgestellten Podest mit so vielen Siegernadeln ausgezeichnet worden war, als ich Wettkämpfe gewonnen hatte, und ich hatte immer alle Laufdisziplinen gewonnen. Aber meine Siege im Laufen waren dem Grünkranz eher
ein Dorn im Auge
. Meine Siege im Laufen hatte ich ganz einfach meinen langen Beinen zu danken und der während des Laufens immer grenzenlosen Angst vor dem Verlieren. Ich hatte nie Lust am Betreiben irgendeines Sports gehabt, ja ich habe den Sport immer gehaßt, und ich hasse den Sport heute noch. Dem Sport ist zu allen Zeiten und vor allem von allen Regierungen aus gutem Grund immer die größte Bedeutung beigemessen worden, er unterhält und benebelt und verdummt die Massen, und vor allem die Diktaturen wissen, warum sie immer und in jedem Fall für den Sport sind. Wer für den Sport ist, hat die Massen auf seiner Seite, wer für die Kultur ist, hat sie gegen sich, hat mein Großvater gesagt, deshalb sind immer alle Regierungen für den Sport und gegen die Kultur. Wie jede Diktatur ist auch die nationalsozialistische über den Massensport mächtig und beinahe weltbeherrschend geworden. In allen Staaten sind zu allen Zeiten die Massen durch den Sport gegängelt worden, so klein und so unbedeutend kann kein Staat sein, daß er nicht
alles
für den Sport opfert. Aber wie grotesk ist es doch gewesen, an Hunderten von Schwerkriegsverletzten, zum Großteil beinahe gänzlich Verstümmelten, die auf dem Hauptbahnhof buchstäblich wie eine lästige, mangelhaft eingepackte Ware umgeladen worden sind, vorbei, auf den Gnigler Sportplatz zu gehen, um dort um Siegernadeln zu laufen. Was mit den Menschen zusammenhängt, ist immer grotesk, und der Krieg und seine Umstände und Zustände sind die groteskesten. Auch in Salzburg ist die riesige Aufschrift auf der Eingangshalle des Bahnhofs
Räder müssen rollen für den Sieg
eines Tages in Trümmer gegangen. Sie ist ganz einfach eines Tages den Hunderten von Toten auf dem Bahnhof auf den Kopf gefallen. Der dritte Bombenangriff auf die Stadt ist der fürchterlichste gewesen, warum ich damals nicht im Stollen, sondern im Keller in der Schrannengasse gewesen bin, weiß ich nicht mehr, kann sein, ich bin während des Alarms in der Schuhkammer gewesen, Geige übend, meinen Phantasien, Träumen, Selbstmordgedanken nachgehend, und sehr oft habe ich in der Schuhkammer die Sirenen nicht hören können, weil ich so intensiv Geige gespielt und so intensiv phantasiert und geträumt habe und mit dem Selbstmorddenken beschäftigt gewesen bin, in die Schuhkammer ist nichts hineingedrungen, als ob sie hermetisch für mich und meine Phantasien und Träume und Selbstmordgedanken abgeschlossen gewesen wäre, aufeinmal war ich mit den wahrscheinlich geradeso wie ich mit unglaublicher Schnelligkeit in den Hauskeller gestürzten beiden Grünkranz zusammen gewesen und durch die Heftigkeit der Detonationen und ganze Fürchterlichkeit der Folgen dieser Detonationen, unmittelbar neben dem Internat niedergegangenen und eingeschlagenen Luftminen und Bomben, die uns an die Wände geschleudert hatten, zuerst einmal der durch meine Nachlässigkeit, Disziplinlosigkeit heraufbeschworenen Bestrafung durch Grünkranz entgangen, seine eigene Angst vor Vernichtung war wahrscheinlich in diesen Augenblicken doch größer gewesen als sein Gedanke, mich zu bestrafen, aber während ich, an die Wand gedrückt, die Grünkranz hatte mich schützend in ihre Arme genommen, in tatsächlicher Todesangst zu überleben wünschte, wartete ich doch nur ab, bis dem Grünkranz wieder zu Bewußtsein gekommen war, daß er mich für die Tatsache, daß ich den Alarm überhört oder, den Alarm ignorierend, nicht in den Stollen gegangen war, bestraft, und die Bestrafung mußte eine elementare, exemplarische sein. Der Grünkranz hat mich aber für dieses Verbrechen gegen das Luftschutzgesetz nicht mehr und niemals bestraft. Wie wir aus dem Keller hinaus und an die Oberfläche gekommen sind, haben wir zuerst überhaupt nichts gesehen, weil wir in dem Mauerstaub und Schwefelstaub unsere Augen gar nicht öffnen hatten können, und wie wir sie aufmachen haben können, waren wir erschrocken gewesen über die Wirkung dieses Angriffs: die Schranne war in vier große Teile auseinandergebrochen gewesen, das große, an die hundert oder hundertzwanzig Meter lange Gebäude hatte
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