Die Ballade der Lila K
mir. Ich hatte viel weniger Angst und kam insgesamt mit dem Leben besser zurecht. Ab und zu lachte ich sogar – Monsieur Kauffmann wusste eben, wie er mit mir umgehen musste. Er war so lustig, so heiter und unberechenbar. Nie konnte ich erraten, was er sich als Tageslektion einfallen lassen, welche Sprache er wählen, welche Kleidung er tragen würde. Er hatte eine phantastische Garderobe: Dutzende von Roben, Damastwesten, Jabothemden, Samtjacken und Seidenschals in allen erdenklichen Farben. Jede Sitzung mit ihm war wie ein Geschenk, eine Überraschung, die er mir darbot, um für ein oder zwei Stunden die zwanghafte Heimroutine zu durchbrechen.
Was ich jedoch am meisten liebte, war sein Wohlwollen. Alle hielten mich für übergeschnappt, für einen gestörten Mechanismus, den man dringend instand setzen musste. Monsieur Kauffmann war der Einzige, der mich nicht verurteilte, der nichts von mir forderte. Er hatte eine Art Sanftmut an sich, eine … wie soll ich es ausdrücken … eine Art Zärtlichkeit, ja genau, Zärtlichkeit. Er behandelte mich wie eine Person ohne jegliche Probleme, aufmerksam und zuvorkommend, und das spendete mir ungeheuer viel Kraft und Trost. Doch es füllte nicht meine innere Leere.
Ich dachte immer noch an meine Mutter. Die Trauer nistete in meinem Herzen, gewissermaßen eingedämmt, aber ungeschmälert. Ich hegte und pflegte sie, ohne sie mit anderen zu teilen. Ich traute mich nicht, darüber zu sprechen, nicht einmal mit Monsieur Kauffmann.
Wenn ich vom Turmdach auf die Stadt hinunterblickte, fragte ich mich jeden Tag aufs Neue, wo steckt sie, wo hat man sie eingesperrt, in welchem Gebäude, in welcher Straße? Es nicht zu wissen brach mir das Herz. Ich suchte die Fassaden mit den Augen nach einem möglichen Hinweis ab, ohne jemals fündig zu werden. Ich hoffte, meinen Blick durch hartnäckiges Starren derart zu intensivieren, dass er durch die opaken Mauern drang. Ob Stein, Glas oder Beton, nichts würde ihm widerstehen. Ich würde sie endlich finden. Und während ich mir die Augen wund schaute, jauchzte die Erzieherin an meiner Seite: Siehst du, wie sich das Licht auf den Dächern bricht? Ist das nicht schön? Und die Baumreihen, die sich den Boulevard entlangziehen? Und drüben diese Weizenfelder? Ein herrlicher Anblick, nicht wahr? Sie dachte, sie hätte mir endlich die Augen für die Schönheit dieser Welt geöffnet. Die dumme Pute. Ich nickte, um sie nicht zu enttäuschen. Ich antwortete: Ja, ja, herrlich , damit sie endlich Ruhe gab und die Klappe hielt. Dann widmete ich mich wieder meiner Trauer.
Ich wohnte immer noch abseits der anderen. Monsieur Kauffmann wollte keinen Zwang auf mich ausüben. Ich kann dich durchaus verstehen. Es ist nicht leicht, mit ihnen zusammenzuleben. Wir werden das später regeln, alles zu seiner Zeit. Jetzt kümmern wir uns erst mal um deine Bildung. Aufgrund meiner überragenden Intelligenz hatte er Großes vor mit mir. Da ich auf keinen Fall an einem Gemeinschaftsunterricht teilnehmen sollte, hat er mir per Videoschaltung Zugang zu allen Kursen aller Jahrgangsstufen gewährt. Nur zu, Mädchen, such dir einfach aus, was dich anspricht. Das habe ich mir nicht zweimal sagen lassen. Mit Feuereifer stürzte ich mich auf alle Fächer – Geschichte, Erdkunde, Chemie, Mathematik, tote und lebende Sprachen. Schließlich musste ich mir ja zwischen zwei Reha-Sitzungen die Zeit vertreiben.
Meine Lehrer schätzte ich sehr – es ist so viel einfacher, die Menschen aus der Ferne zu mögen, so viel bequemer. So bleiben einem unerwünschte Berührungen oder Mundgeruch erspart. Paradiesische Zustände.
Als Monsieur Kauffmann im September die ersten Unterrichtsergebnisse vorlegte, reagierte die Kommission sehr positiv. Sie äußerte sich sogar beeindruckt über die Fortschritte, die ich erzielt hatte. Monsieur Kauffmann rieb sich die Hände: Tja, Mädchen, jetzt habe ich es diesen Engstirnern aber gezeigt – so bezeichnete er unter uns die Mitglieder der Kommission, als Engstirner . Das war recht unvorsichtig, aber Monsieur Kauffmann ließ eben keine Vorsicht walten, jedenfalls nahm er kein Blatt vor den Mund und redete gern Tacheles. Gut, dass die Engstirner zufrieden sind! So können wir in Ruhe weitermachen, wie es uns gefällt. Mehr verlangte ich gar nicht.
An meinem neunten Geburtstag hat mir Monsieur Kauffmann ein Kaleidoskop geschenkt, so siehst du nur Schönes, auch wenn alles ganz scheußlich ist. Die Vorstellung gefiel mir, zugegebenermaßen – es
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