Die Ballade der Lila K
zu gehen, und darum sind es 22 Minuten.«
»Du stoppst auch noch die Zeit!«
»Sie wissen doch, dass ich Präzision schätze.«
»Dann sind es eben 22 Minuten. 22 Minuten eines lieblichen Spaziergangs an meiner Seite. Du willst mir wohl nicht verklickern, dass das über deine Kräfte geht!«
Ich habe mir auf die Lippe gebissen und keine Antwort gegeben.
»Im Ernst, Lila, so geht es nicht weiter. Komm, wir setzen uns auf die Bank. Ich muss mit dir reden.«
Die Bank war genau wie der Hof, heruntergekommen und verdreckt, voller Rost und grüner Farbsplitter, die sich knirschend unter dem Hintern lösten.
»Hör zu«, sagte Monsieur Kauffmann, »anders, als du vielleicht denkst, verdonnere ich dich nicht zu diesem Spaziergang, um dir das Leben schwerzumachen.«
»Ach nein?«
Er seufzte.
»Wie du weißt, wurde mein letzter Bericht von der Kommission eher verhalten aufgenommen. Man ist dort der Meinung, dass ich mich nicht genügend um deine Sozialisierung kümmere. Meinen Standpunkt kennst du. Ich habe mir erlaubt, ihn der Kommission gegenüber erneut zu vertreten … Doch engstirnig , wie sie nun mal sind, habe ich sie natürlich nicht umstimmen können.«
»Monsieur Kauffmann, so dürfen Sie nicht reden«, wisperte ich und deutete ängstlich auf die Kamera, die direkt über uns an der Mauer befestigt war.
Mit einem Achselzucken und einer wegwerfenden Handbewegung gab er mir zu verstehen, dass das keine Rolle spielte. Dann fuhr er fort:
»Also habe ich beschlossen, der Kommission ein scheinbares Zugeständnis zu machen: Ich habe diesen Hohlköpfen vorgeschlagen, mit dir täglich einen solchen Spaziergang zu unternehmen, direkt am großen Pausenhof vorbei, damit du dich wenigstens an die Gegenwart der anderen gewöhnst, wenn du dich schon nicht unter sie mischst … sie sind wirklich sehr laut«, stöhnte er und warf einen ärgerlichen Blick in Richtung des Pausenhofs. »Mein Vorschlag hat bei der Kommission großen Anklang gefunden. Sie ist der Ansicht, dass ein Ritual dieser Art dich enorm weiterbringen wird. Wie du dir denken kannst, habe ich sie in ihrem Glauben gelassen. Am Ende sind alle zufrieden, und wir haben für eine Weile Ruhe. Man gibt ein klein wenig her, um möglichst viel zu behalten, so lautet das Prinzip. Verstehst du?«
Ich nickte stumm. Seine Strategie hatte manches für sich, auch wenn ich das nur ungern zugab.
»Dann sind wir uns also einig, Mädchen: Von jetzt an wirst du jeden Tag ganz gemächlich an dieser verfluchten Mauer entlanggehen, und zwar ohne zu murren, 22 Minuten lang. Im Gegenzug können wir wohl weitermachen wie bisher, ohne dass die Engstirner uns dazwischenfunken.«
Wieder sah ich mit Schrecken auf die Kamera. Es war mir unbegreiflich, wie Monsieur Kauffmann sich so über die Kommissionsmitglieder auslassen konnte, obwohl er wusste, dass er gefilmt wurde.
»Mach dir deswegen keinen Kopf«, sagte er. »Bist du nun einverstanden oder nicht?«
»Ja, ich bin einverstanden.«
»Prima! Lass uns gehen. Ich habe diesen Krawall allmählich satt, den die da hinter der Mauer veranstalten.«
An meinem zehnten Geburtstag hat Monsieur Kauffmann mir einen Kompass geschenkt, eine sehr alte und sehr schöne Ausführung, die seinem Urgroßvater gehört hatte. Damit du dich auf deinem Lebensweg orientieren kannst , erklärte er, als er mir das Gerät in die Hand drückte.
»Das Bild ist schon reichlich abgedroschen, finden Sie nicht? Sie hätten sich auch etwas anderes einfallen lassen können.«
»Abgedroschen ist es bloß, weil es sich eben so gut bewährt hat«, entgegnete er mit einem breiten Lächeln.
Da lächelte ich ebenfalls. Genau in diesem Augenblick spürte ich, dass wir uns tatsächlich versöhnt hatten.
Danach habe ich mich nicht mehr dagegen gesträubt, mit ihm im Hof umherzugehen, gemessenen Schrittes, 22 Minuten täglich. Davon abgesehen, blieb alles beim Alten. Ich hielt beim Essen die Luft an. Ich nahm per Videoschaltung an diversen Kursen teil und erledigte meine Hausaufgaben. Ich lauschte Monsieur Kauffmanns Cellospiel und lernte die Wörter, die er mir vorsagte, auswendig. Ich lief auf dem großen Ringodrom im sechsten Untergeschoss. Ich machte gewissenhaft meine Fingerübungen. Ich ließ mich mit zusammengebissenen Zähnen massieren. Ich blieb klein und mager, ein Strich in der Landschaft , ein Mickermäuschen , wie Takano sagte. Aber ich war kräftig und bei bester Gesundheit. Ich machte stetig Fortschritte. Auf einem Weg, dessen Ziel mir nicht ganz klar
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