Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Ehemanns, und immer sehr darunter gelitten. Ich weiß nicht, ob das Kind ein Mädchen oder Junge war. Es hieß mit Nachnamen Kröcher. Bislang sind meine Nachforschungen gescheitert.
Beide, Tante Martha, die Schwester eines angeheirateten Onkels, und das Kind Kröcher fallen nicht in die Kategorie engere Verwandtschaft. Wählt man nur letzteren Bezugspunkt, dann ist zumindest jeder achte heutige Deutsche oder Österreicher, der älter als 25 ist und dessen familiäre Wurzeln im ehemaligen Reichsgebiet bis 1900 zurückreichen, mit einem Menschen direkt verwandt, der zwischen 1939 und 1945 als »nutzloser Esser« ermordet wurde. Welche – konservativ gewählten – Faktoren führen zu einem solchen Ergebnis? Die 200000 Opfer der Euthanasie starben zwischen 1940 und 1945; sie waren im Durchschnitt 45 Jahre alt. [3] Das heißt, sie waren um 1897 geboren worden. Mithin gehört ein 25-jähriger Nachkomme im Jahr 2012 der vierten Generation an. Aus dessen Sicht wurde ein Urgroßverwandter ermordet.
Nehmen wir ein konstruiertes Beispiel. Ich nenne den fiktiven 1897 geborenen Vorfahren Wilhelm und schreibe diesem drei Geschwister zu. Alle vier bilden die erste Generation. Diese Generation brachte es auf durchschnittlich 2,1 Kinder. Der unschöne statistische Fachbegriff heißt Kohortenfertilität. Demnach besteht die zweite, durchschnittlich 1927 geborene Generation aus 8,4 Personen. Deren durchschnittliche Nachkommenschaft betrug ebenfalls 2,1, also 18 weitere Nachkommen von Wilhelm. Die durchschnittliche Nachkommenschaft der dritten, um 1957 geborenen Generation sank auf 1,4 Kinder. Um 1987 wurden demnach 25 Urenkel, Urgroßnichten und -neffen Wilhelms geboren. Ich unterstelle, dass die Angehörigen der vierten und dritten Generationen noch leben, desgleichen noch zwei aus der zweiten, um 1927 geborenen Generation, und dass die 25-Jährigen der vierten Generation im Jahr 2012 noch keine Kinder hatten. Zu dieser Zeit lebten demnach 45 direkte Nachkommen des Euthanasieopfers Wilhelm. Geht man von 200000 Menschen aus, die diesen Morden zum Opfer fielen, dann sind diese mit rund zehn Millionen heute lebenden (nicht später zugewanderten) Deutschen (und Österreichern) in gerader Linie verwandt.
Das Ergebnis der vorsichtig kalkulierten Modellrechnung vervielfachte sich sofort, würde man nicht nur Wilhelms drei Geschwister, sondern auch noch dessen um 1896 gleichfalls geborenen zehn Cousinen und Cousins einbeziehen und, wie im Fall der ausnahmsweise geretteten Tante Martha, die angeheirateten Familienmitglieder. Bis heute sprechen die wenigsten Familien über die verschwundenen Verwandten, oft sind sie schon lange vergessen.
Inzwischen geben viele psychiatrische Kliniken Auskünfte aus ihren alten Akten, andere Informationen sind in öffentlichen Archiven zugänglich. Dort, wo einst Gaskammern standen, erstellen und ergänzen die Mitarbeiter der Gedenkstätten Hadamar, Bernburg, Pirna-Sonnenstein, Grafeneck und Hartheim Datenbanken mit den Namen der Toten. Solche Namen werden bereits in Büchern auch für einzelne, oft katholische Anstalten sorgfältig verzeichnet. Stellvertretend sei die beeindruckende Dokumentation von Herbert Immenkötter genannt: »Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisierung und Euthanasie im Dominikus-Ringeisen-Werk Ursberg«. Auch auf der Internetseite www.gedenkstaettesteinhof.at findet man die Namen und Lebensdaten von 789 Kindern, die zwischen 1941 und 1945 in der Abteilung Am Spiegelgrund der Wiener psychiatrischen Klinik Am Steinhof ermordet wurden, darunter auch Kinder aus Deutschland.
Zu einer derart schlichten, jedoch klaren Form, den Opfern Respekt und Anerkennung zu zollen, konnte sich der Präsident des deutschen Bundesarchivs bis Ende 2012 noch nicht entschließen. Die Namen und Geburtsdaten von 30076 Menschen, die in der ersten Phase der Morde, also bis August 1941, in Gaskammern starben, kann man auf der Webseite www.iaapa.org.il/46024/Claims#german nachsehen. (Vorsicht, die alphabetische Reihenfolge wird nicht immer exakt eingehalten.) Die Krankenakten zu den in dieser Datei aufgeführten Namen verwahrt das Bundesarchiv im Bestand R 179. Wie eine Sprecherin des Archivs mitteilte, stellte Hagai Aviel aus Tel Aviv die Daten illegal ins Netz. Doch könne ein Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz, diese Daten zu entfernen, nicht umgesetzt werden, weil es kein Rechtshilfeabkommen mit Israel gebe. [4] Der Staat Israel hat dafür viele gute Gründe. Auf der
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