Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Einholung der Genehmigung der Eltern geschehen«. Das Leben eines Menschen abkürzen – diese beschönigende Wendung hatten Binding und Hoche in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt.
Von den 200 Befragten sandten 162 den Fragebogen ausgefüllt zurück. Davon antworteten 73 Prozent (119) auf die erste Frage mit Ja und 27 Prozent (43) mit Nein. Doch waren unter den 43 Eltern, darunter einige wenige Vormünder, die hinter die erste Frage (Zustimmung »in jedem Fall«) ein Nein setzten, nur 20 Personen, die auch die beiden folgenden spezifizierten Fragen mit Nein beantworteten. Ausdrücklich und uneingeschränkt lehnten es lediglich zehn Prozent der Befragten ab, in die »schmerzlose Abkürzung des Lebens« ihres in der Anstalt gut untergebrachten Kindes einzuwilligen. Ewald Meltzer, der in den 1920er-Jahren die Sterilisierung behinderter und geisteskranker Pfleglinge befürwortete, wollte mit seiner Umfrage Argumente gegen den modisch gewordenen Euthanasiegedanken gewinnen. Angesichts der Resultate stellte er irritiert fest: »Das hatte ich nicht erwartet. Das Umgekehrte wäre mir wahrscheinlicher gewesen.«
Einige Befragte begründeten ihre Haltung und auch ihre Zweifel. Darunter hob Meltzer eine Gruppe ähnlich argumentierender Eltern hervor, deren Aussagen knapp 20 Jahre später jene Männer besonders interessierten, die in der Kanzlei des Führers über Maß und Form der geplanten Euthanasiemorde und deren gesellschaftliche Implementierung nachdachten. »Sehr zu denken gibt doch auch die Tatsache«, heißt es in Morells Text, »dass eine ganze Reihe der Jasager folgendermaßen sich ausdrückt: ›Was soll ich als alleinstehende Frau machen; stelle es zu Ihrer Verfügung, machen Sie, was Sie für am besten halten! Richtiger hätten Sie mir das gar nicht gesagt und hätten das Kind einschlafen lassen.‹« Eine andere Mutter präzisierte ihre Zustimmung mit dem Hinweis: »Als frühere Krankenpflegerin halte ich die Anfrage für verfehlt, da es den Eltern dadurch nur schwer gemacht wird«; »ihr Beruf und christliches Gefühl« sagten dieser Frau, »dass alle unheilbaren Patienten von ihren Leiden schmerzlos erlöst werden sollten und den Angehörigen dann nur das Ableben mitgeteilt werden sollte«. Ähnlich sprachen sich andere Angehörige aus: »Wären lieber nicht mit dieser Frage behelligt worden. Bei einer plötzlichen Todesnachricht würden wir uns drein ergeben haben. Wie wohl wäre dem Kinde schon lange, wenn im Anfangsstadium etwas dafür getan worden wäre.« »Lieber wäre mir’s gewesen, ich hätte nichts davon gewusst.« »Im Prinzip einverstanden; nur dürften Eltern nicht gefragt werden; es fällt ihnen doch schwer, das Todesurteil für ihr eigen Fleisch und Blut zu bestätigen. Wenn es aber hieße, es wäre an einer x-beliebigen Krankheit gestorben, da gibt sich jeder zufrieden.«
Meltzer hatte zu diesen Antworten bemerkt: »Gern will man sich selbst und vielleicht auch das Kind von der Last befreien, aber man will seine Gewissensruhe haben.« Selbst unter den wenigen Eltern, die alle drei Fragen mit Nein beantwortet hatten, entdeckte Meltzer in den schriftlichen Begründungen noch manche, die »diese ganze Gewissensfrage auf andere Schultern abwälzen« wollten. Zu den Gründen, die hinter solchen Antworten selbst der entschiedenen Neinsager standen, bemerkte er: »Der Arzt mag es tun, wenn er seiner Sache sicher ist, und mag uns dann benachrichtigen, dass das Kind an der oder jener Krankheit gestorben ist; wir aber wollen unsere Hände in Unschuld waschen.«
Morell folgerte daraus in seiner Vorlage für Hitler: Selbst unter den wenigen Neinsagern hätten die meisten »nichts gegen die Tötung selbst einzuwenden, sie wollen nur ihr Gewissen nicht belasten!!!«. Die große Mehrheit der Jasager brauchte Morell nicht weiter zu kommentieren, doch interessierten ihn jene Angehörigen, die eigentlich für die »Erlösung« ihres Kindes waren, aber andererseits nicht über Leben und Tod entscheiden wollten: »Mehrere Eltern bringen zum Ausdruck: Hätten sie es nur gemacht und gesagt, dass unser Kind an einer Krankheit gestorben sei.« Morell folgerte: »Das könnte man hier berücksichtigen« und man dürfe »nicht denken, dass man keine heilsame Maßnahme ohne das Placet des Souveräns Volk ausführen« könne. [16]
Später legitimierten die Organisatoren der Euthanasie ihr Morden immer wieder mit Meltzers Umfrage. Das belegen zahlreiche Dokumente. Eines davon findet sich in dem 1942
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