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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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fertiggestellten Film »Dasein ohne Leben«, der für den Massenmord warb, im Auftrag der Kanzlei des Führers gedreht worden war, aber niemals öffentlich gezeigt wurde. Neben Dokumentaraufnahmen aus verschiedenen Irrenhäusern enthielt er Spiel- und Trickpassagen, darunter die folgende:
    Der Direktor einer großen Heil- und Pflegeanstalt lehrt im Nebenamt als außerplanmäßiger Professor an einer Universität. Während einer Vorlesung verwandelt er sich gewissermaßen in Ewald Meltzer und berichtet von seiner früheren Umfrage unter den Eltern unheilbarer Pfleglinge. Mit ansteigender Stimme verkündet er, dass 73 Prozent der Befragten für die »Erlösung« ihrer Kinder votiert hätten. Zum weiteren Aufbau der Szene heißt es im Drehbuch: Der Kopf des Professors wird herangezoomt, »kommt nah und näher, wird überlebensgroß, jetzt füllen nur noch Augen und Stirn das Bild, darauf blendet eine Montage Sätze aus der Originalumfrage ein, vermischt mit handschriftlichen Antworten: ein Stoß von Briefen. Aus dem Durcheinander springt ein Satz auf in flammender Schrift: ›Eine Mutter schrieb: Nicht fragen – handeln!‹ Hinter der Montage steht der Kopf des Professors. (Die Musik endet in einem Furioso.)« [17]  
    Der Direktor einer Hamburger Kinderklinik, der zwischen 1941 und 1945 mindestens 56 geschädigte kleine Kinder hatte töten lassen, verteidigte sich hernach mit dem Hinweis auf dieselbe Umfrage. Die bei Meltzer angeführten Antworten und Prozentzahlen führte er während seiner Vernehmung im Januar 1946 fehlerfrei an und leitete daraus zu seiner Entlastung ab: »Erwähnen möchte ich nochmals, dass viele Eltern von sich aus den Wunsch zur Erlösung aussprachen.« Doch sei es seiner Ansicht nach »als unmenschlich abzulehnen«, den Eltern, speziell den Müttern, »eine solch schwierige Entscheidung in voller Konsequenz zu übertragen«, deswegen müsse der Arzt einen erheblichen Teil der Verantwortung auf seine Schultern laden, um die Gewissensnot der Mütter zu lindern. [18]  
    Neben den insgesamt eindeutigen Willensbekundungen der Eltern ließen zwei weitere Faktoren die Umfrage für den 1939 vorgesehenen Staatsgebrauch als hilfreich erscheinen. Meltzer hatte erstens Eltern befragt, deren Kinder in einer evangelischen Anstalt untergebracht waren. Demnach konnte für die Angehörigen angenommen werden, dass sie zumindest Reste religiöser Bindung aufwiesen. Zweitens waren die Väter der Pfleglinge überwiegend sächsische Arbeiter, die, so durfte vermutet werden, während der Weimarer Jahre eher links gewählt hatten. Von dieser Seite war demnach wenig Widerspruch zu erwarten, vorausgesetzt, die Väter und Mütter würden nicht mit Gewissensfragen konfrontiert, die sie lieber anderen zuschieben wollten. In diesem Sinn hatte zum Beispiel ein Bergarbeiter, dessen beide Söhne im Katharinenhof gepflegt wurden, auf Meltzers Fragen erwidert: »Ich gestehe offen, dass, als vor zweieinhalb Jahren unsere hochveranlagte zwölfjährige Luise nach dreitägiger Diphterie an Herzlähmung gestorben war und auch die beiden Knaben erkrankten, sowohl ich wie auch meine Frau den beiden zu ihren Gunsten den gleichen schmerzlosen Heimgang gewünscht haben, wenn wohl wir gleichzeitig alles taten, um sie am Leben zu erhalten. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass für alle diese Kinder der Tod eine Wohltat bedeutet.« [19]  
    Für die Zwangssterilisierungen hatte die Regierung 1933 ein Gesetz veröffentlicht und eigenständige Erbgesundheitsgerichte einschließlich einer zweiten Instanz geschaffen. Über die dritte Instanz, einen Reichsgerichtshof für Erbgesundheit, wurde immer wieder debattiert. Im Fall der Euthanasie entschied sich Hitler anders. Nicht zuletzt auf Anraten Morells wollte er die Morde in gesetzlich nicht legitimierter und in nicht öffentlicher Weise durchführen lassen. Doch zielte das Verfahren nicht auf Geheimhaltung im Sinne strengster Abschirmung – es bestand in einem Angebot an das Volk, speziell an die Verwandten der künftigen Opfer, diese staatliche Maßnahme nicht näher zu hinterfragen, sie mit einem Schulterzucken in Kauf zu nehmen oder ihr stillschweigend zuzustimmen.
    Die Todesursachen, die auf den Totenscheinen der alsbald Ermordeten standen, fälschten die Vollstrecker phantasievoll. Sie taten das, um den Angehörigen das Leben zu erleichtern. Desgleichen wollten sie den Angestellten von Krankenkassen und Fürsorgeverbänden, von Sterbegeld- und Krankenversicherungen und den sonst am

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