Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)
auf den nur geringfügig geschützten König von Deep Blue zu. Der König musste entweder ausweichen – was Kasparow erlaubt hätte, einen seiner Bauern auf die gegnerische Grundreihe zu ziehen und in eine Dame umzuwandeln (erreicht ein weißer Bauer die achte Reihe, kann er in einen Läufer, Springer, Turm oder, was die meisten Vorteile verspricht, in eine zweite Dame umgewandelt werden) –, oder er riskierte, schachmatt gesetzt zu werden. Kasparows Dame und Läufer, die sich zu jenem Zeitpunkt in der unteren linken Ecke des Bretts befanden, hatten eine relativ freie, diagonale Bahn und erhöhten so noch den Druck auf den bereits von den drei Bauern bedrängten König. Kasparow wusste noch nicht genau, wie er den Deep-Blue-König schachmatt setzen würde, aber er erkannte, dass alles zu seinen Gunsten stand. Recht bald wurde sich auch Deep Blue der starken Position Kasparows bewusst und gab dreizehn Züge später auf.
Abbildung 9-3c: Ganzheitliche Bewertung der Stellung
»Eine typische Computerschwäche«, sagte Kasparow später. »Ich bin mir sicher, Deep Blue war mit der Stellung sehr zufrieden, aber die Konsequenzen waren zu weitreichend, als dass er die Lage hätte korrekt einschätzen können.« 29
»Mensch übertrifft Computer«, verkündete die Schlagzeile der New York Times , 30 die am darauffolgenden Tag nicht weniger als vier Artikel über die Partie veröffentlichte.
Die Partie hatte jedoch eine letzte, überraschende Wendung genommen, die zwar fast niemandem aufgefallen war, aber vermutlich die Geschichte des Schachspiels verändert hat.
Der Anfang vom Ende
In der Endphase des Schachspiels, dem Endspiel , ist die Zahl der Figuren auf dem Brett geringer, und die siegreichen Kombinationen lassen sich manchmal eher berechnen. Trotzdem erfordert diese Phase des Spiels größte Genauigkeit, da oft Dutzende fehlerloser Züge nötig sind, um einen leichten Vorsprung in einen Sieg zu verwandeln. Ein extremes Beispiel zeigt Abbildung 9-4: Ungeachtet dessen, was Schwarz unternimmt, gewinnt Weiß, sofern 262 Züge korrekt ausgeführt werden. (In der Praxis kann Weiß mit dieser Stellung nicht gewinnen, denn eine Partie endet unentschieden, wenn nach fünfzig aufeinanderfolgenden Zügen keine Figur geschlagen oder kein Bauer verwandelt worden ist.)
Ein Schachspieler wäre kaum siegreich aus der Position der Abbildung 9-4 hervorgegangen. Schachspieler besitzen jedoch sehr viel Übung darin, Endspiele abzuschließen, die zehn, fünfzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig weitere Züge erfordern.
Für Computer hingegen sind Endspiele ein gemischtes Vergnügen. Es gibt nur noch wenige taktische Zwischenziele, und sofern er die Züge nicht bis zum bitteren Ende durchkalkulieren kann, übersieht er gern einmal den Wald vor lauter Bäumen. Schachcomputer verfügen für die Endspiele, wie auch für Eröffnungsspiele, über Datenbanken mit verschiedenen Szenarien. Buchstäblich sämtliche Stellungen mit sechs oder weniger Figuren auf dem Brett sind bis zum letzten Zug gespeichert. Momentan wird daran gearbeitet, sämtliche Spielverläufe mit sieben Figuren in eine Datenbank einzugeben. Diese Arbeit ist fast abgeschlossen. Einige der Abläufe sind so kompliziert, dass sie bis zu 517 Züge erfordern – aber die Computer erinnern sich genau, was zu einem Sieg, einer Niederlage oder einem Remis führt.
Abbildung 9-4: Weiß gewinnt … nach 262 Zügen
In dieser Phase des Spiels tut sich so etwas wie ein schwarzes Loch auf: ein Punkt, nach dessen Passage die Schwerkraft des Suchbaums regiert und der Computer alle notwendigen Züge ausführt und alle Partien gewinnt. Die abstrakten Ziele dieser herbstlichen Phase einer Schachpartie werden durch konkrete ersetzt: »Zieh den Bauern hierher und du wirst gewinnen, verleite Schwarz dazu, seinen Turm dorthin zu bewegen, und es gibt ein Remis«.
Deep Blue hatte durchaus noch Veranlassung, die erste Partie gegen Kasparow fortzusetzen. Seine Schaltkreise sagten ihm, dass er auf eine Niederlage zusteuerte, aber auch, dass selbst großartigen Spielern wie Kasparow alle 75 Züge ein ernsthafter Fehler unterläuft. 31 Ein Fehlzug Kasparows hätte Deep Blues Sensoren aktivieren und ein Remis herbeiführen können. Deep Blues Lage war also unerfreulich, aber noch nicht ganz aussichtslos.
Angesichts dieser Umstände verhielt sich Deep Blue sehr seltsam. Sein 44. Zug bestand darin, dass er einen seiner Türme in die gegnerische Grundlinie bewegte, statt Kasparows König zu bedrohen. Der
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