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Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)

Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)

Titel: Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nate Silver
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Zug des Computers wirkte vollkommen sinnlos. Während er selbst aus allen Richtungen bedroht wurde, vergab er sozusagen einen Zug, indem er Kasparows weißem Bauern gestattete, bis in seine Reihe vorzudringen, wo er sich beim nächsten Zug in eine Dame zu verwandeln drohte. Noch seltsamer war, dass Deep Blue beim nächsten Zug aufgab.

    Abbildung 9-5: Deep Blues verwirrender Zug
    »Was geht in dem Computer vor?«, fragte sich Kasparow. Er hatte erlebt, dass Deep Blue beispielsweise bei dem Läufer-Turm-Tausch strategische Fehler beging, in komplexen Situationen, deren Implikationen er einfach nicht begreifen konnte. Aber dies hier war etwas anderes gewesen, ein taktischer Fehler trotz einer relativ einfachen Stellung, ein Fehler, der Computern nicht unterläuft.
    »Wie kann ein Computer nur in dieser Form Selbstmord begehen?«, fragte Kasparow Frederic Friedel, einen befreundeten deutschen Schachjournalisten, der ihn in Computerfragen beriet, als sie am selben Abend die Partie im Plaza Hotel rekapitulierten. 32 Er gab einige plausible Erklärungen, die Kasparow aber nicht sonderlich gefielen. Vielleicht hatte Deep Blue tatsächlich Selbstmord begangen, weil er sich seiner Niederlage sicher war und Kasparow nicht weiter in seinen Spielstil einweihen wollte. Vielleicht handelte es sich um einen ausgeklügelten Betrug, eine Strategie der Programmierer, um ihn zum Überoptimismus zu verleiten?
    Seiner Veranlagung gemäß vertiefte sich Kasparow in das vorhandene Datenmaterial. Mit Hilfe Friedels und des Schachprogramms Fritz fand er heraus, dass der konventionelle Zug, Schwarz zieht seinen Turm in die f-Linie und bedroht den weißen König, doch kein so günstiger Zug für Deep Blue gewesen wäre: Letztendlich hätte ihn Kasparow matt gesetzt, obwohl dafür zwanzig Züge nötig gewesen wären.
    Die Implikationen jagten ihm einen richtigen Schrecken ein. Der einzige Grund für den Computer, auf einen Zug zu verzichten, bestand darin, dass er sowieso schachmatt gewesen wäre. Nur hätte Kasparow noch weitere zwanzig Züge gebraucht. Friedel erinnert sich:
    »Deep Blue hatte wahrscheinlich alles bis zum bitteren Ende ausgerechnet und einfach das geringste Übel gewählt. ›Vermutlich sah er ein Schachmatt in mehr als zwanzig Zügen erreicht‹, sagte Garri, dankbar darüber, sich auf der richtigen Seite dieser überwältigenden Berechnungen befunden zu haben.« 33
    Früher hielt man es für ausgeschlossen, dass ein Mensch oder ein Computer fähig sein würde, in einem so komplexen Spiel wie Schach zwanzig Züge vorauszuberechnen. Kasparow hat einst behauptet, dass er seinen stolzesten Moment 1999 während eines Spiels in Holland erlebte, als er die siegreiche Schlussstellung fünfzehn Züge vorausgesehen hatte. 34 Man ging davon aus, dass sich die Leistung Deep Blues in den meisten Fällen auf sechs bis acht Züge beschränkte. Kasparow und Friedel wussten nicht genau, was Sache war, aber was beiläufige Beobachter für einen zufälligen und unerklärlichen Fehler hielten, schien ihnen Ausdruck großer Weisheit zu sein.
    Es gelang Kasparow nie wieder, Deep Blue zu schlagen.
    Edgar Allan Kasparow
    In der zweiten Partie spielte der Computer aggressiver und billigte Kasparow keine vorteilhafte Position zu. Die kritische Phase kam nach etwa 35 Zügen. Die Figuren waren relativ gleichmäßig verteilt: Beide verfügten noch über ihre Damen, einen Läufer, beide Türme und sieben Bauern. Aber Deep Blue, der Weiß spielte, befand sich in einer etwas angenehmeren Lage, da er am Zug war und seine Dame große Bewegungsfreiheit besaß. Die Stellung (Abb. 9-6) beunruhigte Kasparow nicht unbedingt, aber die Bedrohung einer Bedrohung bestand: Die nächsten Züge würden entscheiden, ob Deep Blue eine Gewinnchance besaß oder die Partie unausweichlich auf ein Remis zusteuerte.
    Deep Blue standen zwei Möglichkeiten offen: Er konnte seine Dame in eine feindlichere Position bringen, was ein taktischer Zug gewesen wäre. Er konnte aber auch den gegnerischen Bauern schlagen und damit die linke Brettseite öffnen. Das hätte eine offenere, elegantere und strategisch wertvollere Stellung geschaffen.
    Die Großmeister, die die Partie kommentierten, erwarteten alle, dass Deep Blue mit seiner Dame vorrücken würde. 35 Dieser Zug lag auf der Hand und schien der Logik von Computern gemäß die komplexen Stellungen, die der Rechnerleistung viel abverlangen, vorzuziehen. Aber nachdem er ungewöhnlich lange »nachgedacht« hatte, entschied sich Deep

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