Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)

Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)

Titel: Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nate Silver
Vom Netzwerk:
Blue für das Bauernopfer. 36
    Kasparow wirkte kurzzeitig erleichtert, weil der Bauernwechsel den Druck auf ihn etwas verminderte. Aber je länger er die Stellung überdachte, desto unbehaglicher wurde ihm zumute, und er legte die Hände vors Gesicht. Ein Zuschauer glaubte gesehen zu haben, dass er weinte. 37 Warum war Deep Blue nicht mit seiner Dame vorgerückt? Sein Zug war nicht augenfällig schlechter, es war ein Zug, den man von Kasparows Gegnern aus Fleisch und Blut wie beispielsweise seiner langjährigen Nemesis Anatoli Karpow unter den richtigen Voraussetzungen durchaus hätte erwarten können. Aber ein Computer entschied sich für einen derartigen Zug nur aus handfesten taktischen Erwägungen, und Kasparow konnte sich einfach nicht vorstellen, wie diese Erwägungen aussehen sollten. Vorausgesetzt, dass Deep Blue nicht doch fähig sein sollte, zwanzig oder mehr Züge hintereinander durchzukalkulieren.

    Abbildung 9-6: Deep Blues Möglichkeiten beim 36. Zug der 2. Partie
    Kasparow und Deep Blue setzten das Spiel noch etwa acht weitere Züge fort. Die der Partie beiwohnenden Journalisten und Experten erkannten, dass Kasparow, dessen Spiel von Anfang an defensiv gewesen war, nicht mehr gewinnen, aber ein Remis anstreben konnte. Zur Überraschung des Publikums gab Kasparow nach dem 45. Zug auf. Der Computer konnte sich nicht verrechnet haben, zumindest nicht, wenn er die Fähigkeit besaß, zwanzig Züge vorauszu»denken«. Kasparow wusste, dass Deep Blue diese Partie gewinnen würde, es erschien ihm also sinnlos, seine Kräfte weiter darauf zu verschwenden, wenn noch vier weitere Partien anstanden.
    Die Menge im Saal applaudierte lautstark, 38 denn es war eine gute Partie gewesen, viel besser als die erste. Deep Blues Sieg war dem Publikum nicht so unvermeidlich erschienen wie Kasparow, aber vermutlich auch nur deswegen, weil es über die Stellung nicht so gründlich nachgedacht hatte wie dieser. Die eigentliche Bewunderung galt jedoch Deep Blue. Er hatte gespielt wie ein Mensch. »Nice style!«, kommentierte Susan Polgar, die Weltmeisterin, das Spiel des Computers der New York Times gegenüber. 39 »Der Computer spielte wie ein Champion, wie Karpow«, pflichtete ihr Joel Benjamin bei, ein Großmeister, der das Deep-Blue-Team beraten hatte: »Das war kein Computerspiel, das war richtiges Schach!«
    An diesem Abend verließ Kasparow hastig das Equitable Center, ohne sich mit den Journalisten zu unterhalten. Er hatte sich die Kommentare der anderen Großmeister jedoch zu Herzen genommen. Vielleicht war Deep Blue ja buchstäblich menschlich und nicht nur in einem existenzialistischen Sinn. Vielleicht saß ja irgendwo – wie bei dem Schachtürken zwei Jahrhunderte zuvor – ein Großmeister hinter den Kulissen und betätigte die Hebel. Vielleicht hatte Benjamin, ein guter Spieler, der ein Mal gegen Kasparow Remis gespielt hatte, Deep Blue nicht nur geschult, sondern ihm während der Partie auch geholfen.
    Schachmeister sind darauf geeicht, Muster zu erkennen, und sie genießen den Ruf, leicht paranoid zu sein. Bei einer Pressekonferenz am nächsten Tag, bezichtigte Kasparow IBM unlauterer Methoden. »Maradona nannte es die Hand Gottes«, sagte er über das Spiel des Computers. 40 Er spielte damit auf ein Tor des argentinischen Fußballspielers Diego Maradona bei einem World-Cup-Spiel 1986 an.
    Auf Videoaufnahmen war später zu sehen gewesen, dass dieser den Ball nicht mit dem Kopf, sondern mit seiner linken Hand ins Netz befördert hatte. Maradona behauptete später, er habe das Tor folgendermaßen erzielt: »Un poco con la cabeza de Maradona y otro poco con la mano de Dios.« (Ein wenig mit dem Kopf Maradonas und im Übrigen ein wenig mit der Hand Gottes.) Ebenso schien Kasparow zu denken, dass die Schaltkreise von Deep Blue durch eine überlegene Intelligenz ergänzt worden seien.
    Die beiden Theorien Kasparows über Deep Blues Verhalten widersprachen sich natürlich ebenso wie Edgar Allan Poes Gedanken über den Schachtürken. Die Maschine spielte zu gut, um ein Computer sein zu können, oder ihre Intelligenz war so groß, dass kein Mensch hoffen konnte, sie je zu verstehen.
    In der zweiten Partie aufzugeben, war jedoch ein Fehler gewesen. Deep Blue hätte nicht in jedem Fall siegen müssen, wie Friedel und Yuri Dokhoian, der Assistent, dem Kasparow am meisten vertraute, diesem am nächsten Tag beim Mittagessen erklärten. Nachdem sie die Stellung mit dem Schachcomputer Fritz in der Nacht durchgegangen waren,

Weitere Kostenlose Bücher