Die Berghuette

vor der Brücke an und schaltete den Motor aus. Sie stieg aus dem Wagen und ging zur Mitte der Brücke. Als sie die Hände auf das unebene Geländer legte, spürte sie noch die Feuchtigkeit und Kühle der Nacht auf dem glatten Holz. Ein frischer Wind blies vom Berg hinunter ins Tal und fuhr in ihre Haare. Es war ein herrlicher Blick ins Tal, und in der Ferne konnte sie die Kirchturmspitze von Kirchdorf ausmachen. Dankbar sog sie die friedliche Morgenstimmung in sich auf. Wie anders war ihre Stimmung gewesen, als sie das erste Mal über diese Brücke gefahren war! Verletzte Gefühle hatten monatelang in ihr gebrodelt, und sie hatte einfach Ruhe und Frieden gesucht. Und dann war sie hier auf Felix getroffen und hatte stattdessen Liebe gefunden! Klar, die verletzten Gefühle waren noch da, keine Frage, aber sie waren auf einmal nicht mehr so wichtig. Wo sie sich vor zwei Wochen noch einsam, hilflos und ausgeliefert vorgekommen war, fühlte sie sich heute geliebt und umsorgt, beschützt und angenommen. Was für ein Unterschied!
    Ein Windstoß fegte von oben ins Tal hinunter und ließ ihre langen Haare wehen. Plötzlich löste sich der Seidenschal, den sie locker um den Hals gelegt hatte, und noch bevor sie reagieren konnte, flatterte er vor ihren Augen über das Geländer und segelte weiter ins Tal.
    „Scheiße!“, entfuhr es ihr unwillkürlich. Im selben Moment begann ihr Po zu kribbeln, und sie war sie froh, dass Felix nicht neben ihr stand – ihr Allerwertester hätte sicherlich ein paar scharfe Hiebe abbekommen!
    Bedauernd blickte sie dem schönen, türkisfarbenen Seidentuch nach, bis es ganz weit unten in einem Busch hängen blieb. Der Schal war ein Lieblingsstück von ihr, Ralf hatte ihn ihr auf der Hochzeitsreise durch die Provence geschenkt, und irgendwie symbolisierte er die schöne Zeit zu Beginn ihrer Ehe.
    Einen Moment lang überlegte sie, ob sie neben dem Bach hinunterklettern sollte, um zu versuchen, das geliebte Tuch zu retten, aber dann verwarf sie den Gedanken schnell wieder. Das Stückchen Stoff war es nicht wert, und sie brauchte keine Erinnerung mehr an ihre Ehe. Sie hatte sie hinter sich gelassen. Endlich.
    Erleichtert atmete sie die frische Bergluft tief ein. Ein neuer Abschnitt ihres Lebens hatte angefangen, und sie hatte eine strahlende Zukunft vor sich. Das Leben mit Felix versprach, bunt und aufregend zu werden, und sie blickte mit Optimismus nach vorne.
    Als sie sich wieder in ihr Auto setzte, wurde sie schmerzhaft daran erinnert, dass sie sich gestern im Wilden Kaiser ziemlich daneben benommen hatte. Sie lachte kurz auf. Auf diesen Teil der Beziehung hätte sie ganz gut verzichten können – obwohl, der Sex danach war großartig! Und wenn sie es recht bedachte, dann war es ihr lieber, wenn ein Fehlverhalten nicht tagelange Diskussionen, Schuldgefühle und Liebesentzug nach sich zog, wie es in manchen Beziehungen üblich war. Die Diskussion erledigte Felix meist, während ihr nackter Po über seinen Knien lag, und Schuldgefühle hatte sie hinterher keine mehr, im Gegenteil – danach war alles vergeben und vergessen. Und Liebesentzug? Ihr wurde schon heiß, wenn sie nur an gestern Abend dachte! Nein, auch mit diesem Aspekt ihrer Beziehung konnte sie leben!
    Caro lächelte glücklich. Dann drehte sie den Zündschlüssel um und legte den Gang ein. Rumpelnd fuhr sie über die dicken Holzbohlen – einer wunderbaren Zukunft entgegen.

    ENDE
     
     
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