Das Lied der Klagefrau
Prolog
E s war an einem jener bitterkalten Morgen zu Beginn des Jahres 1786. Die Nacht war sternenklar gewesen, im ersten Licht des Tages schälten sich langsam die Konturen eines hohen Bauwerks heraus. Es war ein Turm, der da Gestalt annahm, ein steinerner Überrest, von dem manch einer behauptete, sein Alter betrage über achthundert Jahre und deshalb sei er nutzlos und überflüssig. Doch das stimmte nicht. Denn wer genau hinsah, erkannte, dass sein Mauerwerk noch immer festgefügt war und dass er viele weitere Jahrhunderte auf seinem Hügel aus Muschelkalk stehen würde.
Die weiße Farbe des Muschelkalks inmitten der dunkleren Landschaft erinnerte an die Blesse auf der Stirn eines Pferds, weshalb die Burg, deren Mittelpunkt der Turm bildete, Burg Plesse genannt wurde. Der Turm diente als Bergfried, er hatte den Herrschaften derer von Plesse oftmals in Zeiten höchster Not Zuflucht und Schutz geboten, denn sein Eingangstor befand sich in über dreißig Fuß Höhe. Niemand, der nicht willkommen war, hatte ihn betreten können, und wer sich ihm in feindlicher Absicht näherte, wurde mit einem Hagel von Pfeilen begrüßt und mit flüssigem Pech übergossen.
Von der Burg und ihren weitläufigen Befestigungen war im Jahr 1786 schon vieles durch Witterung und Winde eingeebnet worden, und die Bewohner aus den umliegenden Dörfern hatten ein Übriges getan, indem sie die Burganlagen als Steinbruch benutzten.
Doch der Turm stand unerschütterlich da, auch wenn der Zahn der Zeit selbst an ihm nicht ganz spurlos vorübergegangen war. Hoch oben, siebzig Fuß über dem Hügelgrund, waren Teile seiner Mauer herausgebrochen, und aus einer der dadurch entstandenen Lücken wuchsen zwei Lindenbäume in den Himmel empor. Ihre Wurzeln mussten viele Ellen tief in den Turm hinabreichen, vielleicht sogar so tief, dass sie Halt in dem verschütteten Brunnen fanden.
Der untere Teil des Turms jedoch war völlig unversehrt. Er bestand aus gewaltigen behauenen Steinen, die Unverrückbarkeit, Wehrhaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Diese Eigenschaften mochten auch der Grund dafür sein, warum an seinem Fuß eine seltsame Reisegruppe übernachtet hatte. Sie bestand aus einem Bauchredner und seiner Gefährtin, dazu aus sieben lebensgroßen Puppen, die abseits auf einem Karren Platz gefunden hatten. Der Name des Bauchredners lautete Julius Klingenthal.
Klingenthal war kein junger Mann mehr, denn im Frühsommer sollte er seinen fünfzigsten Geburtstag begehen. Gleichwohl galt er als einer der besten Ventriloquisten seiner Zeit. Die Menschen in Stadt und Land nannten ihn »Puppenkönig«, was er als große Auszeichnung empfand.
Seine Gefährtin hieß Alena. Sie war eine ehemalige Novizin vom Kölner Karmel
Maria vom Frieden,
die sich ihr tägliches Brot als Klagefrau verdiente. Alena war bedeutend jünger als Klingenthal, erst fünfundzwanzig Jahre alt, was ihrer Liebe zu ihm aber nicht im Wege stand. Wer sie ansah, sah zunächst nur ihre Augen. Sie hatte außergewöhnliche Augen, die in der Lage waren, alle Gefühle und Gedanken, deren ein Mensch fähig ist, auszudrücken. Sie waren schwarz wie Ebenholz und konnten lachen und weinen, lieben und hassen, streiten und schlichten, anklagen und verzeihen, je nachdem, wie ihrer Besitzerin zumute war. Nase und Mund dagegen waren weniger außergewöhnlich, doch durchaus wohlgeraten: die Nase war fein und gerade, der Mund weich und geschwungen. Alenas Figur war filigran, sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper, hübsche runde Schultern und lange schwarze Haare, die sie aus praktischen Gründen zu einem Dutt verknotet hatte. Alles in allem wirkte sie sehr zerbrechlich – was sie in Wirklichkeit nicht war. »Klingenthal«, sagte sie, denn sie nannte ihren Geliebten meistens beim Nachnamen, »bist du schon wach?«
»Nein«, sagte Klingenthal.
Alena lachte leise und strich ihm über die Wange. »Natürlich bist du wach, sonst würdest du mir ja nicht antworten. Oder willst du etwa behaupten, du redest im Schlaf?«
»Ja, das will ich.« Klingenthal schob seinen Arm unter Alenas Taille und zog sie auf sich. Als sie über ihm lag, ihr Gesicht ganz nahe dem seinen, sagte er: »Ich habe gerade geträumt, wir wären verheiratet. Es war ein schöner Traum, also lass mich weiterschlafen.«
»Ach, Klingenthal.« In Alenas Augen trat Trauer. »Wenn das mit dem Heiraten so einfach wäre. Du bist Jude, und ich bin Katholikin, wie soll das gehen?«
»Das hast du mich schon oft gefragt, und immer
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