Die Bestie im Menschen
Fußsteiges aufgestellten Gaslaternen, die eher qualmigen Sternlein ähnelten, kaum nothdürftig erhellt wurde. Der soeben vorübergegangene Platzregen hatte einen eisigkalten Windzug hinterlassen, den man hier auf dem freien, mächtigen Raume ganz besonders spürte. Dieser Windhauch drängte auch den Nebel zurück bis zu den spärlichen Lichterreihen der Häuser in der Rue de Rome. Ebenso ungeheuerlich als trostlos der Anblick dieses durchnäßten, hier und dort von einem blutrothen Lichte durchblitzten, mit undurchsichtigen Massen, einzeln stehenden Lokomotiven und Waggons, mit Unmengen von Zugtheilen auf den Remisesträngen besetzten Terrains. Und aus diesem Schattensee heraus schallten Lärm, scheinbar von Riesen ausgestoßene, fieberhaft beschleunigte Athemzüge, das Kreischen der Dampfpfeifen, ähnlich dem Schreien einer vergewaltigten Frau, der Ton jammernder, seiner Signalhörner und daneben das Gebrause in den benachbarten Straßen. Befehle wurden laut ertheilt, es sollte noch ein Waggon herangeschoben werden. Die Schnellzugslokomotive ließ aus einem Ventil einen mächtigen Dampfstrahl heraus. Der weiße Strahl stieg hinauf in all dieses Schwarz und zerstäubte dort in kleine Rauchwölkchen und diese bethauten das so unsäglich weit am Himmel ausgespannte Kleid des Todes mit ihren heißen Thränen.
Um sechs Uhr zwanzig Minuten erschienen Roubaud und Séverine. Sie hatte soeben der Mutter Victoire in der Bedürfnißanstalt neben den Wartesälen den Schlüssel des Zimmers eingehändigt. Er drängte sie vorwärts mit der besorgten Miene eines von seiner Frau aufgehaltenen Gatten: er, den Hut im Genick, ungeduldig und unduldsam, sie mit dem Schleier vor dem Gesicht zögernd, wie gebrochen von Müdigkeit. Eine Fluth von Reisenden wälzte sich über den Perron, sie mischten sich unter die anderen und eilten an der Reihe der Waggons entlang, um noch ein leeres Koupee erster Klasse erhaschen zu können. Und immer lebhafter wurde hier das Gewühl, die Gepäckträger rollten die vollen Karren zum Gepäckwagen hinter der Lokomotive, ein Beamter bemühte sich, eine zahlreiche Familie unterzubringen, der Unter-Inspector im Dienst beleuchtete mit der Signallaterne die Kuppelungen der Wagen, um zu sehen, ob sie fest aufgeschraubt wären. Roubaud hatte soeben ein leeres Koupee entdeckt und wollte Séverine gerade beim Einsteigen behilflich sein, als ihn der Bahnhofsvorsteher Herr Vandorpe bemerkte, der gemeinsam mit seinem ersten Assistenten für den Fernverkehr, Herrn Dauvergne, beide Hände auf dem Rücken, den Veranstaltungen zur Anhängung des verlangten Waggons zusah. Man begrüßte sich und mußte natürlich plaudern.
Zuerst sprach man über den Vorfall mit dem Unterpräfecten, der zu Jedermanns Befriedigung nun beigelegt war. Dann war die Rede von einem frühmorgens in Havre geschehenen und telegraphisch mitgetheilten Unfall: die Treibstange einer Lokomotive, der Lison, welche am Donnerstag und Sonnabend den um sechs Uhr dreißig Minuten abgehenden Schnellzug zu führen hatte, war gebrochen, gerade als man in den Bahnhof einfuhr. Die nothwendig gewordene Reparatur zwinge nun den Maschinenführer Jacques Lantier, einen Landsmann von Roubaud, und seinen Heizer Pecqueux, den Mann der Mutter Victoire, zu einer zweitägigen Unthätigkeit. Vor der Waggonthür stand Séverine, sie war noch nicht eingestiegen; ihr Gatte trug bei der Unterhaltung mit den Herren eine auffallende Heiterkeit zur Schau, auch sprach er sehr laut. Jetzt gab es einen Ruck, der Zug rollte um einige Meter weit zurück: die Lokomotive stieß die vorderen Waggons auf den zur Schaffung eines reservirten Koupees verlangten. Es war der Wagen Nummer 293. Henri Dauvergne
junior
, welcher in seiner Eigenschaft als Zugführer mitfuhr und Séverine durch den Schleier erkannt hatte, zog sie noch rechtzeitig zur Seite, sonst wäre sie von der offen stehenden Koupeethür getroffen worden. Dann entschuldigte er sich lächelnd und erzählte in aufmerksamer Weise, daß jenes Koupee für einen der Verwaltungsräthe der Gesellschaft reservirt werde, der es erst eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges bestellt habe. Sie lächelte nervös, sie wußte eigentlich nicht warum, und er ging seinem Dienste wieder nach. Er war von ihr entzückt, er hatte bei sich schon oft gedacht, daß ein Verhältniß mit ihr keine unangenehme Sache sein müßte.
Die Uhr wies auf sechs Uhr siebenundzwanzig Minuten. Noch drei Minuten Zeit. Roubaud, der selbst während seines Plauderns mit
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