Die Bestie im Menschen
Athems rollte sie dahin, dahin.
In Rouen sollte Wasser eingenommen werden. Eisiger Schrecken lähmte den Bahnhof, als man diesen tollen Zug in einem Wirbel von Rauch und Flammen, diese Locomotive ohne Führer und Heizer, diese mit patriotische Lieder heulenden Soldaten vollgefüllten Viehwagen vorübersausen sah. Siezogen in den Krieg an die Ufer des Rheines, es schien, als könnten sie die Zeit nicht erwarten, dort zu sein. Mit offenen Mäulern standen die Beamten da und reckten die Arme empor. Ein allgemeiner Aufschrei erfolgte: unmöglich konnte dieser zügellose, sich selbst überlassene Zug den stets durch Rangirmanöver gesperrten, mit Waggons und Locomotiven gespickten Bahnhof von Sotteville passiren, ohne Unheil anzurichten. Man eilte zum Telegraphen und benachrichtigte dort die Leute. Es war die höchste Zeit, denn gerade versperrte ein Güterzug das Geleise; er konnte noch auf einen Seitenstrang gebracht werden. Schon hörte man das Dröhnen des entflohenen Ungeheuers in der Ferne. Der Zug hatte sich in die beiden Tunnels in der Nähe von Rouen gestürzt und kam in seinem wüthenden Galopp, wie eine unaufhaltsame, riesige Masse herbeigestürzt, der nichts zu widerstehen vermag. Der Bahnhof von Sotteville wurde im Sturm genommen, mitten durch die Hindernisse sauste er ohne irgend wie zu kollidiren und verschwand wieder in der Dunkelheit, in der nach und nach sein Dröhnen erstarb.
Jetzt schlugen alle telegraphischen Apparate längs der ganzen Strecke an. Aller Herzen schlugen bei der Nachricht von dem gespenstigen Zug, der Rouen und Sotteville passirt hätte. Man zitterte vor Furcht, daß ein vor ihm befindlicher Zug erreicht werden könnte. Er aber setzte seine Fahrt wie ein Wildschwein im Forst seinen Weg fort, ohne sich nach den rothen Signalen zu richten. In Oissel zerschellte er beinahe an einer Rangirmaschine; er setzte Pont-del’Arche in Schrecken, denn seine Schnelligkeit schien sich nicht zu vermindern. Von Neuem verschwand er, immer weiter rollte er durch die schwarze Nacht, Niemand wußte, wohin.
Was kümmerte die Locomotive die Opfer, die sie auf ihrem Wege zermalmte? Nicht achtend des vergossenen Blutes sauste sie der Zukunft entgegen. Ohne Führer im Dunkel der Nacht, wie eine blinde, taube, vom Tod selbst losgelassene Bestie rollte und rollte sie dahin, bepackt mit diesem Kanonenfutter, diesen von der Müdigkeit schon dumm gewordenen, trunkenen, singenden Soldaten.
ebook Erstellung - Februar 2010 - TUX
Ende
Weitere Kostenlose Bücher