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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wenn er sich einem weiblichen Wesen näherte. Sie schien darüber ernst und traurig gestimmt. In seiner Verlegenheit, die er gern verborgen hätte, fragte er sie, ob ihre Mutter zu Hause wäre, obwohl er ganz genau wußte, daß diese leidend und nicht im Stande war, fortzugehen. Sie antwortete durch ein bloßes Nicken mit dem Kopfe und trat zur Seite, damit Jener sie beim Vorübergehen nicht zu streifen brauchte. Dann ging sie, ohne weiter ein Wort zu verlieren, stolz aufgerichtet zum Brunnen zurück.
    Jacques durchschritt eilig den schmalen Garten und betrat das Haus. Im ersten Gemach, einer mächtigen Küche, die gleichzeitig Speise- und Wohnzimmer, saß einsam am Tisch in einem Strohstuhle, die Füße mit einem alten Shawl umwickelt, Tante Phasie, wie man sie schon als er noch ein Kind nannte. Sie war eine Cousine seines Vaters, ebenfalls eine Lantier, die gleichzeitig seine Pathe war und ihn im Alter von sechs Jahren zu sich genommen hatte, als seine Eltern plötzlich nach Paris ausgerückt waren und ihn in Plassans, woselbst er auch später die Gewerbeschule besuchte, zurückließen. Es war seit jener Zeit in ihm ein Gefühl lebhafter Erkenntlichkeit zurückgeblieben; daß er seinen Weg gemacht habe, dankte er nur ihr, behauptete er. Als er Locomotivführer erster Klasse bei der Westbahngesellschaft geworden war, nachdem er zwei Jahre bei der Bahn in Orleans gearbeitet hatte, fand er seine Tante mit ihren beiden Töchtern erster Ehe an einen Bahnwärter, namens Misard verheirathet in diesem verlorenen Winkel von la Croix-de-Maufras wieder. Heute sah die ehemals so große und kräftige Tante Phasie, trotzdem sie kaum fünfundvierzig Jahre zählte, abgemagert und eingeschrumpft, von fortwährenden Schauern durchschüttelt, wie eine Sechzigerin aus.
    Sie stieß einen Ruf freudigen Erstaunens aus.
    »Wie, du bist es, Jacques! … Ach, welche Ueberraschung, mein großer Junge!«
    Er küßte ihr die Wangen und erzählte ihr, daß er einen zweitägigen, unfreiwilligen Urlaub habe nehmen müssen: seine Lokomotive, die Lison, habe des Morgens bei der Ankunft in Havre einen Bruch an der Treibstange erlitten; die Reparatur dauere vierundzwanzig Stunden, er trete also seinen Dienst erst am Abend des folgenden Tages, zum sechs Uhr vierzig Schnellzug wieder an. Er habe die Gelegenheit benutzt, um sie umarmen zu können. Er wolle hier übernachten und erst morgen früh mit dem Zuge um sieben Uhr sechsundzwanzig Minuten von Barentin aus zurückkehren. Und während er ihre armen abgezehrten Hände umfaßt hielt, erzählte er ihr, wie sehr ihn ihr letzter Brief beunruhigt habe.
    »Ach ja, mein Junge, so geht es auch nicht mehr weiter. Wie nett von Dir, daß Du meinen Wunsch, Dich zu sehen, errathen hast. Aber ich weiß, wie schwer Du loskommen kannst, daher wagte ich es nicht, Dich hierher zu bitten. Jetzt bist Du da und ich habe so viel auf dem Herzen!«
    Sie unterbrach sich und warf einen mißtrauischen Blick durch das Fenster. In der fortschreitenden Dämmerung sah man jenseits der Strecke ihren Mann Misard auf seinem Posten in einer der Holzbuden, die alle fünf oder sechs Kilometer aufgestellt und zur Sicherstellung des Verkehrs untereinander telegraphisch verbunden sind. Während seine Frau und später Flore mit dem Dienst bei der Uebergangsbarriere betraut waren, mußte er selbst das Amt eines Bahnwärters versehen.
    Sie senkte sich schüttelnd die Stimme, als ob er sie hätte hören können.
    »Ich glaube fest, er will mich vergiften!«
    Jacques sprang bei dieser vertraulichen Mittheilung überrascht auf. Auch seine Augen wandten sich dem Fenster zu und er fühlte von Neuem, wie ein schwacher, rother, mit goldenen Punkten besäter Schleier den klaren Blick seiner schwarzen Augen verdunkelte.
    »Aber welcher Gedanke, Tante Phasie!« murmelte er. »Er sieht ja so sanft und nachgiebig aus.«
    Ein Zug nach Havre mußte im nächsten Augenblick vorüberkommen. Misard war aus dem Wachthäuschen getreten und hatte die Barriere hinter sich geschlossen. Während er durch einen Druck auf den Hebel das Signallicht sich in ein rothes verwandeln ließ, betrachtete ihn Jacques. Er war ein kleiner, abgezehrter Mann mit einem armseligen durchfurchten Gesicht und farblosem spärlichem Haarwuchs; augenscheinlich ein schweigsamer, sich bei Seite drückender, geduldiger und vor seinen Vorgesetzten buckelnder Beamter. Inzwischen war er in die Bretterbude zurückgegangen, um in sein Wachtbuch die Zeit des Vorbeipassirens des Zuges zu vermerken

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