Die Bestie im Menschen
dort noch lange unbeweglich, wie besessen. Der Gedanke, daß man den Untersuchungsrichter erwarte, verwirrte ihn, als wäre er selbst ein Mitschuldiger. Sollte er sagen, was er beim Vorüberjagen des Schnellzuges gesehen hatte? Er entschloß sich zunächst, es sagen zu wollen, denn was hatte er zu fürchten? Uebrigens war es zweifellos seine Pflicht. Dann aber überlegte er sich, wozu würde das gut sein? Er konnte kein einziges thatsächliches Factum melden, er konnte keine einzige genaue Einzelheit von dem Mörder angeben. Er wäre ein Thor, sich da hineinzumischen, seine Zeit zu vergeuden und sich aufzuregen, ohne Nutzen für irgend Jemand. Nein, nein, er wollte lieber nichts sagen! Er ging endlich davon, sah sich aber noch zweimal nach der düsteren Masse um, welche der vom gelblichen Scheine der Laterne beleuchtete Körper am Boden bildete. Eine empfindlichere Kälte sank vom nebligen Himmel auf die Trostlosigkeit dieser Einöde mit ihren dürren Anhöhen hernieder. Zug folgte noch immer auf Zug. Ein sehr langer ging nach Paris. Die unerbittliche mechanische Kraft trieb sie an einander vorüber ihren fernen Zielen, der Zukunft entgegen. Sie achteten nicht darauf, daß sie das halb abgeschnittene Haupt dieses Menschen streiften, den ein andrer Mensch umgebracht hatte.
Drittes Kapitel
Am folgenden Tage, einem Sonntage, um fünf Uhr Morgens –es läuteten gerade alle Glocken von Havre –betrat Roubaud die Abfahrtshalle, um seinen Dienst anzutreten. Es war noch vollständig Nacht, aber der vom Meere herausstreichende Wind hatte zugenommen und vertrieb die Nebel von den Abhängen der Höhen, die sich von Saint-Adresse bis zum Fort von Tourneville erstrecken. Im Westen hellte sich der Himmel ein wenig auf, an einem Stückchen blauen Himmel blitzten die letzten Sterne. In der Halle brannten noch immer die Gaslampen, doch ihr Licht schien der frostige Morgenhauch zu bleichen. Arbeiter formirten unter der Aufsicht des Unter-Inspectors vom Nachtdienst den ersten Frühzug nach Montvilliers. Die Thüren der Wartesäle waren noch geschlossen, verödet ruhten noch die Perrons beim starren Erwachen des Bahnhofs.
Als Roubaud seine über den Wartesälen gelegene Wohnung verließ, hatte er die Frau des Kassirers Lebleu wie eine Bildsäule im Hauptkorridor bemerkt, auf welchen die Wohnungen der Beamten sämmtlich führten. Seit Wochen schon erhob sich diese Dame mitten in der Nacht, um Fräulein Guichon, der Billetverkäuferin aufzulauern, welche nach ihrer Meinung mit dem Bahnhofsvorsteher, Herrn Dabadie, verbotenen Umgang pflegte. Uebrigens hatte sie nie etwas entdecken können, nicht einen Schatten, nicht einen Athemzug. An diesem Morgen aber kehrte sie schnurstracks zu ihrem Gatten zurück, denn sie hatte mit Erstaunen bemerkt, als Roubaud eine Sekunde nur die Thür öffnete, um fortzugehen, daß die schöne Séverine schon fertig angezogen, frisirt und gestiefelt im Eßzimmer stand, sie, die sonst gewöhnlich bis neun Uhr im Bett lag. Frau Lebleu hatte sofort ihren Mann geweckt, um dieses außerordentliche Ereigniß zu melden. Am Abend vorher hatten sie sich erst nach Ankunft des Pariser Schnellzuges um elf Uhr fünf Minuten zur Ruhe begeben, weil sie vor Verlangen brannten, zu erfahren, was aus der Geschichte mit dem Unterpräfekten geworden war. Aus der Haltung der Roubauds halten sie indessen nichts zu entnehmen vermocht, die hatten eben ausgesehen wie alle Tage. Und bis nach Mitternacht hielten sie die Ohren gespitzt: aber kein Geräusch drang aus der Wohnung ihrer Nachbarn, die waren jedenfalls sofort entschlummert. Ihre Reise hatte trotzdem wohl kein gutes Resultat gebracht, sonst wäre Séverine nicht so frühzeitig aufgestanden. Als der Kassirer fragte, was für ein Gesicht jene gemacht hätte, gab sich seine Frau alle Mühe, es zu schildern: sie hätte sehr starr und bleich geblickt mit ihren großen, blauen, unter den schwarzen Haaren hervorblitzenden Augen; auch hätte sie sich nicht gerührt, kurz wie eine Nachtwandlerin wäre sie ihr erschienen. Im Laufe des Tages würde man ja erfahren, was eigentlich los wäre.
Unten traf Roubaud seinen Kollegen Moulin, der Nachtdienst gehabt. Er übernahm von diesem den Dienst, während dieser einige Schritte mit ihm ging und ihm erzählte, was alles während der Nacht passirt war; man hatte Diebe abgefaßt, gerade als sie sich in den Gepäckraum schleichen wollten. Drei Mann hätten wegen Ungehorsams fortgeschickt werden müssen, ein Kuppelgewinde sei während des
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