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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Morgen anbrechen, einen schönen, klaren Morgen, denn der Seewind hatte die Nebel ganz verjagt. Er sah im Norden sich die Küste von Ingouville bis zu den Bäumen des Kirchhofes als ein violetter Streifen vom erbleichenden Himmel abheben; sich nach Süden und Westen wendend, bemerkte er das letzte weißliche Gewölk davonschweben, als segle ein Geschwader in der Ferne. Der ganze Osten aber über dem mächtigen Plateau der Seinemündung flammte auf in Erwartung des baldigen Aufgehens der Sonne. Fast unbewußt nahm Roubaud die Dienstmütze mit dem Goldstreifen vom Kopfe, um seine Stirn in der frischen, reinen Luft zu kühlen. Dieser wohlbekannte Horizont, das mächtige Gebiet der Bahnhofsanlagen, links die Ankunftsseite, dann der Lokomotivenschuppen, rechts die Güterexpedition, eine ganze Stadt, schien ihm die Ruhe zurückzugeben und ihn zur Aufnahme seiner täglichen, stets gleichen Beschäftigung fähig zu machen. Jenseits der Mauer der Rue Charles Laffitte qualmten die Fabrikschornsteine, riesige Haufen von Kohlen sah man längs des Bassins Vauban lagern. Aus den anderen Bassins schallte schon Leben herauf. Das Pfeifen der Güterzüge, das Brausen und der Geruch der Wogen, das ihm der Wind zutrug, lenkten seine Gedanken auf das heutige Fest und das Schiff, zu dessen Stapellauf die Menge drängen würde.
    Als Roubaud die bedeckte Halle wieder betrat, fand er das Personal mit der Zusammenstellung des sechs Uhr vierzig Schnellzuges beschäftigt; er glaubte, daß man auch den Waggon 293 nähme, und ein jäher Zornesausbruch hob die Wirkung seiner Abkühlung in der frischen Morgenluft wieder auf.
    »In des Teufels Namen, nicht den Waggon dort! Laßt ihn stehen! Er geht erst am Abend mit.«
    Der Rangirmeister setzte ihm auseinander, daß man den Waggon nur fortschiebe, um zu einem hinter ihm stehenden zu gelangen. Aber er hörte nicht auf ihn in seiner außer Verhältnis zu dem Gegenstand stehenden Wuth.
    »Ungeschickte Kerle, ich habe Euch doch soeben gesagt. Ihr sollt ihn stehen lassen.«
    Als er endlich begriff, um was es sich handle, verrauchte seine Wuth auch noch nicht, er schimpfte auf die schlechte Anlage des Bahnhofs, die nicht einmal das Beiseiteschieben eines Waggons ermögliche. In der That war der Bahnhof, einer der ersten dieser Linie, vollständig unzureichend mit seiner alten Holzremise, seinem Dach aus Holz und Zink und schmalen Scheiben, seinen nackten und traurigen Gebäuden, an denen Risse an allen Enden klafften, und einer Stadt wie Havre unwürdig.
    »Es ist eine Schande, es ist nur unklar, warum die Gesellschaft das hier noch nicht der Erde gleich gemacht hat.«
    Die Arbeiter sahen ihn an, sie waren erstaunt, ihn so frei heraus reden zu hören, der sonst das Muster von Disciplin war. Er fühlte das und schwieg plötzlich. Innerlich sich boßend, überwachte er das Rangiren. Eine Falte der Unzufriedenheit zeigte sich auf seiner niedrigen Stirn, während sein geröthetes, rundes, von einem rothen Barte umrahmtes Gesicht den Ausdruck fester Entschlossenheit annahm.
    Von nun an hatte Roubaud sein kaltes Blut wieder. Er beschäftigte sich lebhaft mit dem Schnellzuge und prüfte jedes Detail. Die Koppelungen schienen ihm schlecht gemacht zu sein, er verlangte, daß sie nochmals vor seinen Augen gemacht würden. Eine Frau und deren beide Töchter, die häufig zu seiner Frau kamen, verlangten ein Damencoupé für sich. Ehe er mit der Pfeife das Signal zur Abfahrt gab, überzeugte er sich nochmals, daß am Zuge alles in Ordnung. Lange blickte er ihm nach mit dem klaren Blick des Mannes, dessen nur eine Minute lang gezeigte Unaufmerksamkeit vielen Menschen das Leben kosten kann. Gleich darauf mußte er die Geleise überschreiten, um einen soeben einfahrenden Zug von Rouen zu empfangen. Er stieß hier auf einen Postbeamten, mit dem er täglich Neuigkeiten austauschte. Jetzt trat an dem arbeitsreichen Morgen eine kurze Ruhepause von einer Viertelstunde ein, während der er aufathmen konnte, weil kein unmittelbarer Dienst ihn abrief. Er drehte sich wie gewöhnlich eine Cigarette und plauderte sehr vergnügt. Der Tag nahm zu, man konnte die Gaslaternen auslöschen. Die Halle war so spärlich mit Fenstern versehen, daß ein grauer Schatten in ihr ruhte. Draußen aber hatten die Sonnenstrahlen das weite Himmelsgewölbe, auf welches sie eine Aussicht eröffneten, schon in Flammen getaucht. Der Horizont schwamm in Rosa und in der reinen Luft dieses Wintermorgens zeichneten sich alle Einzelheiten scharf und präcise

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