Die Bestimmung
A. oder Nil . Manchmal fragte sie sich, warum sie eigentlich einen Namen hatte, wenn ihn sowieso niemand benutzte?
«Bin unter der Dusche!», rief sie zurück.
«Nili?» Diesmal stand er vor der Tür.
«Ich dusche, Paps!»
«Wenn Du fertig bist, komm mal 'runter, wir müssen was bereden.»
«Ja, ja», nuschelte Nilah und fragte sich, was denn nun schon wieder los war? Hatte etwa die Schule angerufen? Nein, das war Quatsch. Sie tappte mit Bademantel und einem Handtuchturban auf dem Kopf nach unten. Der Besuch war gegangen. Teeduft hing in der Küche. Papiere lagen auf dem Tisch verstreut.
Sie ging ins Wohnzimmer, aber auch hier war ihr Vater nicht. Dann das Arbeitszimmer, das sein Büro war und in dem er auch oft genug auf dem Sofa schlief, wenn er lange gearbeitet hatte. Sie stupste die angelehnte Tür auf. Er stand am Fenster hinter seinem riesigen Arbeitstisch und telefonierte gerade, wobei er immer wieder über seinen Stoppelbart strich. Nilah setzte sich auf das Sofa und schaute ihn abwartend an.
«Ja, zwei Plätze für morgen früh. Wann kommen wir am Flughafen in Dublin an? Aha, und von da aus dann nach Shannon? Und wie lange dauert das? Aha, ja danke sehr. Nein, nein, wir brauchen keinen Leihwagen, wir werden abgeholt. Ja, Danke.»
Er legte auf. Ein wenig hilflos huschten seine Augen durch den Raum.
«Was ist los? Wer fliegt nach Irland? Du?»
«Wir beide!» Er kam um den Schreibtisch herum und ließ sich in den Sessel vor ihr fallen.
«Oma Edda ist tot. Vorgestern ist sie eingeschlafen. In ihrem Ohrensessel. Das Sanatorium hat mich angerufen, weil sie zuerst versucht haben, Deine …. Nun, jedenfalls haben sie mich daraufhin kontaktiert.» Er bemerkte ihren Blick und schwieg.
«Und jetzt fliegen wir hin?»
«Ja. Wir beide fliegen zur Beerdigung nach Irland.»
Nilah war seltsam berührt. Edda war tot? Sie hatte sie nur einmal gesehen, hier in Hamburg, da war sie gerade zehn geworden. Edda war etwas sonderbar gewesen und sehr alt. Sie lebte ganz allein an der Westküste von Irland. Und nun war sie tot. Nilah wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte.
«Nun», sagte ihr Vater, seine Knie knacken beim Austehen. «Wir sind jetzt die Familie, Nili. Ich denke, wenigstens wir beide sollten ihr die letzte Ehre erweisen oder meinst Du nicht?»
Nilah wusste, was er damit meinte. In solchen Dingen war er ein unverrückbarer Fels. Vielleicht lag es daran, dass er nie eine Familie, außer seiner selbstgegründeten, gehabt hatte. Jedenfalls hatte er nie davon erzählt.
«Und die Schule?» fragte sie betont unschuldig.
«Die werden wohl ein paar Tage ohne Dich auskommen, oder? Ich werde morgen mit Deiner Klassenlehrerin reden. Pack jetzt ein paar warme Sachen ein, es ist sehr windig dort.»
Noch spät in der Nacht lag Nilah im Bett und konnte wieder mal nicht einschlafen. Sie dachte darüber nach, wie schnell etwas im Leben passierte. Eben noch war es ein normaler Tag mit drei Punkten in Sport und schon flog man nach Irland zu einer Beerdigung. Irgendjemand aus dem Dorf würde sie abholen, hatte ihr Vater gesagt.
Edda war eine merkwürdige Frau gewesen. Es war nur ein kurzer Augenblick vor dem turmhohen Bau des Planetariums gewesen. Sie hatte einen Fahrer dabei gehabt, der im Auto geblieben war. So klein, alt und zerbrechlich hatte sie gewirkt. Seltsam traurig und entschlossen zugleich. Edda hatte damals der ängstlichen zehnjährigen Nilah in die Augen gesehen und etwas in einer Sprache gesagt, die sie nicht verstanden hatte. Danach waren über die Jahre Bilder und Worte verschwommen. Sie hatte, soweit sie sich erinnerte, nie wieder an diese Begegnung gedacht. So etwas konnte sie wirklich gut! Nilah sah aus dem Fenster in den Nachthimmel. Schwere Wolken waren aufgezogen.
«Schlaf gut, Edda!» flüsterte sie und schloss die Augen.
Draußen begannen heftige Böen über das Land zu fegen.
Toks Schwäche
Alles tat ihm weh und ihm war kalt. Tok lag kauernd in einer dunklen Ecke, hatte den Kopf zwischen die Knie gesteckt und murmelte vor sich hin. Für heute Nacht würden sie hier bleiben, um das Wetter abzuwarten. Nachdem der Sturm ein wenig abgeflaut hatte, war der Regen gekommen. Noch immer peitschte der Wind, nur dass er jetzt auch noch nass war. Wie gern hätte er jetzt ein warmes Feuerchen gehabt, um sich die Taubheit und den dumpfen Schmerz aus den Gliedern zu reiben.
In seinem Kopf wirbelten die Bilder von Nuxas Tod. Wie sie schlaff am ausgestreckten Arm dieses Wahnsinnigen hing, nein, das
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