Die Betäubung: Roman (German Edition)
geht ein Zug. Den kriegen wir leicht.«
»Du hättest diese Pfähle in kleinen Stapeln entlang der Grundstücksgrenze abladen lassen sollen«, sagt Leida, als sie draußen stehen. »Jetzt musst du sie Hunderte Meter weit schleppen.«
Drik ist froh, dass er etwas getrunken hat. Da fällt es ihm nicht schwer zu schweigen. Mit Bedacht öffnet er die Wagentür, stemmt die Schulter unter Leidas spitze Hüfte und schiebt sie hinein.
»Suzan macht mir Sorgen«, sagt Leida, als sie durch den Wald fahren. »Der ganze Zustand erinnert mich an die Zeit, als du damals anfingst zu studieren. Da hat sie sich auch verändert. Sie wurde still. Sie fühlte sich von dir im Stich gelassen. Natürlich dachte sie, es wäre ihretwegen. Aber es war deinetwegen. Du hast es zu Hause nicht mehr ausgehalten, du musstest weg. Weit weg. Genau wie jetzt. Du hast sie zum zweiten Mal verlassen.«
»Dafür hatte ich meine Gründe«, brummt Drik. Er umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Was mischt sie sich ein? Alles nur Projektion, sie selbst hat ihren Bruder verloren und identifiziert sich jetzt mit Suzan. Damit habe ich nichts zu tun.
»Was zwischen euch vorgefallen ist, weiß ich nicht und will ich nicht wissen. Aber sie ist deine Schwester, sie hat für dich gesorgt, sie ist mit dir verbunden. Ich hoffe, dass du das nicht vergisst, wenn du wieder zu dir gekommen bist. Das wollte ich sagen. Darum habe ich dich in dieser Bruchbude besucht, in die du dich zurückgezogen hast.«
Bevor Drik zur Stelle ist, springt Leida aus dem Wagen und landet mit beiden Beinen auf dem Boden. Unbeirrt stapft sie auf den Eingang des Bahnhofs zu. Drik geht langsam hinterher.
Es ist noch nicht einmal sieben Uhr, als Suzan zum Krankenhaus radelt. Die Weiden am Teich der James-Cook-Anlage sind schon mit einem Hauch Grün überzogen. Zwei Schwäne gleiten ruhig über das Wasser. Entspannt, denkt sie, unbefangen. Ich weiß nicht, wie das ist, ich habe mich immer beurteilt gefühlt. Ich kann nicht das kleinste Tanzschrittchen machen, ohne dass ich mich dabei selbst kritisch überwache. Ich habe mich nie unschuldig gefühlt.
Bei den Fahrstühlen trifft sie Hettie. Zusammen fahren sie nach oben. Heute Neuro. Gestern haben sie beide mit dem Patienten gesprochen und ihm ausführlich erzählt, was heute gemacht wird.
»Dass der Mann den Mut dazu hat«, sagt Hettie. »Mitten in der Operation geweckt zu werden, während der Kopf geöffnet ist.«
»Es geht nicht anders«, sagt Suzan. »Der Chirurg muss sichergehen, dass er keine essentiellen Bereiche zerstört, und deshalb muss der Patient sprechen. Bildtafeln benennen, Fragen beantworten. Das geht nur, wenn man wach ist.«
»Aber was, wenn er in Panik gerät?«
»Ruhig bleiben. Mit ihm sprechen. Valium geben. Schlimmstenfalls versetzen wir ihn wieder in Narkose. Wir behüten ihn vor der Angst, wir sind die Betäuber. Hast du Muffe?«
Hettie nickt. Sie öffnet mit ihrem Ausweis die Tür zum Umkleideraum und lässt Suzan vorangehen. Birgit und Carla stehen drinnen und schwatzen, das Gespräch verstummt, als sie Suzan sehen. Sie nickt den Frauen zu und nimmt sich wie Hettie aus dem Behälter mit der sterilen Kleidung ein Hemd und eine Hose. Die mit den roten Biesen, die kleinste Größe. Sie setzen sich nebeneinander auf die Bank, um ihre Schuhe auszuziehen.
»Wie steht’s mit deinem Forschungsprojekt?«, fragt Hettie.
»Fertig. Es war nur eine Vorstudie. Jetzt kann ein anderer damit weitermachen.«
»Hast du etwas gefunden?«
»Eigentlich nicht. Ein paar Patienten hatten Erinnerungen, aber aus den Interviews mit den jeweiligen Anästhesisten ergab sich jedes Mal, dass das, was sie erzählten – was im OP gesagt wurde oder welchen Lärm der Instrumententisch machte, als er hereingefahren wurde –, vor der Narkose stattgefunden hatte.«
»Trügerische Erinnerungen also«, sagt Hettie.
»Ein Mann hat einen Traum gehabt. Von einem Wasserfall. Das könnte sein, meint Kees. Ein Urinbeutel, der plätschernd in einen Eimer geleert wird. Das ist mein einziger Fund.«
Suzan bindet ihre Hose zu und nimmt eine Haube aus dem Spender an der Wand. In dem danebenhängenden Spiegel kontrolliert sie, ob sie alle Haare gut darunter verstaut hat. Sie schaut sich in das nackte Gesicht. In ihrem Mantel, der noch auf der Bank liegt, brummt das Handy.
»Geh du schon mal vor«, sagt sie zu Hettie, »ich komme gleich.«
Sie zieht das Handy aus der Manteltasche und schaut aufs Display. Eine
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