Die Betäubung: Roman (German Edition)
den Flur.
Wo gehen sie hin?, denkt Suzan. Ob Peter bei Drik auf dem Sofa schlafen wird? Nein, das geht nicht. Drik weiß alles, der hat sich Allards Geschichten ein Jahr lang angehört. Und nichts gesagt. Woche für Woche hat er zugehört, hat gewusst, dass sein bester Freund von Allard betrogen wurde. Und von mir. Das weiß Peter jetzt. Drik hat sich von seiner Schweigepflicht knebeln lassen, die ging für ihn offenbar über die Freundschaft. Komisch. Warum musste er sich so treu und heilig an die Regeln halten? Er hätte mich doch gleich, als Allard sich in mich verliebt hat, zur Rede stellen können. Dann wäre alles anders ausgegangen.
Sie schließt die Tür und schiebt den Riegel vor. Sie macht die Lichter aus. Drik hätte mich beschützen müssen, denkt sie. Jetzt habe ich Peter gegen mich aufgebracht und Roos verletzt. Auf einen Schlag habe ich meine ganze Familie verloren. Drik hätte für mich sorgen müssen. Es ist zu kompliziert, ich überblicke das nicht. Mein Bruder entscheidet sich gegen mich, lässt mich zugunsten einer Welt, die ihm wichtiger ist, im Stich. Ich will schlafen. Aufhören zu denken. Vielleicht sollte ich Allard die Schuld geben, er hat angefangen, damals, unter dem OP-Tisch. War er da schon hinter Roos her?
Suzans Gedanken schwirren hierhin und dorthin, und überall stoßen sie auf Wut oder Schuld. Im Badezimmer öffnet sie den Medizinschrank. Schlaf ist der einzige Ausweg. Da muss noch ein Döschen Nembutal stehen, schon ziemlich alt, sollte man gar nicht mehr nehmen, aber jetzt könnte es die Lösung sein. Sie schiebt Döschen und Fläschchen beiseite, um in den hinteren Bereich zu schauen. Nichts. Sie kann sich nicht erinnern, die Tabletten weggeworfen zu haben, aber das wird sie wohl, denn sie sind nicht mehr da.
Wollte ich sie alle auf einmal nehmen, denkt Suzan, als sie im Bett liegt, will ich ein für alle Mal von allem befreit sein? Doch bevor sie eine Antwort formulieren kann, versinkt sie in tiefen Schlaf.
Die morgendliche Übergabe verläuft schluderig. Während Winston vorn über den Nachtdienst berichtet, hören die Kollegen nicht auf zu schwatzen. Vereycken ist nicht da, und Taselaar blättert in seinen Operationsplänen. Niemand greift ein.
Hettie sitzt neben Suzan. »Ich bin heute bei dir eingeteilt«, sagt sie. »Da freue ich mich.«
Sowie die Sitzung beendet ist, suchen sie das Weite. HNO, denkt Suzan, mit Ruud. Kinder. Da müssen wir uns einfühlen und achtsam sein. Die Eltern beruhigen. Arbeit. Ich bin wieder da. Hettie hat inzwischen fast ein Jahr Erfahrung. Suzan überlässt ihr die Initiative und sieht, dass es ihr gut von der Hand geht. Als das erste Kind in Narkose ist, lässt sie Hettie allein und holt den kleinen Patienten für den anderen OP ab.
Auf dem Flur herrscht Aufregung. Luc steht vor der Tür der Rumpelkammer. Er zittert und ist ganz bleich. Kees ist bei ihm. Bram Veenstra kommt hinzu. Auch Suzan bleibt stehen.
»Also doch«, sagt Luc. »Hat mich mein Gefühl also doch nicht getäuscht. Auf dem Dach. Dass etwas mit ihm war.«
Kees hat sein Handy gezückt.
»Livia? Ist der Chef schon da? Gibst du ihn mir bitte mal?«
»Er ist gerade reingekommen«, sagt Kees zu seinen Kollegen. Dann spricht er wieder ins Handy. Vereycken solle kommen. Sofort. Etwas Ernstes, das keinen Aufschub dulde.
»Was ist denn?«, fragt Suzan.
Lucs Hand liegt schützend auf der Türklinke.
»Da drinnen«, sagt er. »Erschrick nicht, es ist unfassbar.«
Alle, die vorüberkommen – Reinigungskräfte, Chirurgen –, blicken erstaunt auf das Grüppchen vor der Tür.
»Ich schlage vor, dass wir reingehen«, sagt Kees. »Wir erregen zu viel Aufmerksamkeit, die können wir nicht brauchen.«
Bram bietet an, dass er auf dem Flur auf Vereycken wartet. Luc, Kees und Suzan betreten das Kämmerchen.
Automatisch springt das grelle Licht an und beleuchtet Allard Schuurman, der in dem kaputten Rollstuhl hängt. Seine Haut ist gelblich und wächsern. Sein Kopf ruht merkwürdig abgeknickt auf der Rückenlehne. Der linke Arm liegt entspannt auf seinem Oberschenkel, der rechte ist runtergerutscht.
Zu dritt stehen sie da und betrachten ihn, eingehend, konzentriert.
»Ich war auf der Suche nach einer Verbandsschere«, sagt Luc leise. Er hustet und räuspert sich. »Ich dachte zuerst, dass er sich hier kurz ausruht, und entschuldigte mich noch dafür, dass ich ihn geweckt hätte.«
»Und dann?«, fragt Kees. »Hast du ihn untersucht?«
Luc nickt.
»Kein Puls. Entrundete Pupillen.
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