Die Betäubung: Roman (German Edition)
Fentanyl hatte sich der Junge selbst verabreicht, das stand fest. Ob er sich auch mit den Barbituraten sediert hatte, war nicht eindeutig zu belegen. Die hätte ihm auch jemand in den Kaffee rühren können. Der Leichenbeschauer schrieb »Überdosis« in seinen Bericht, und die Polizei begnügte sich damit. Allards Mutter war schließlich eine Kollegin, und die Angelegenheit war schon schmerzlich genug.
Drik betrachtete Allards Tod als Selbstmord. Das gab seinem professionellen Selbstvertrauen den Rest. Vorzeitiger Ruhestand, dachte er, Schluss mit den Therapien, sorg dafür, dass du niemanden mehr ins Verderben reißt. Zieh dich zurück, irgendwo in den allerletzten Winkel des Landes, möglichst weit von allen entfernt. Zum zweiten Mal machte er seine Praxis zu, diesmal endgültig. Seine Patienten wimmelte er ab, umgeben von einem Nebel der Depersonalisierung. Die meisten dachten wohl, dass er sterbenskrank sei, und er ließ sie in dem Glauben.
Allards Mutter empfing er. Händeringend saß sie in dem Sessel, in dem ihr Sohn ein Jahr lang einmal die Woche gesessen hatte – eine nervöse, schlanke Frau mit beunruhigend bekannten Augen. Drik versteckte sich hinter seiner Schweigepflicht. Er bot ihr eine Überweisung an. Die wollte sie nicht, natürlich nicht, dachte Drik, sie wird alles, was mit Psychiatrie zu tun hat, hassen, wie der Sohn, so die Mutter. Binnen einer halben Stunde hatte er sie wieder zur Tür hinauskomplimentiert.
»Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn gut zu erziehen«, hatte sie noch gesagt. »Ist es meine Schuld, dass er so schwach geworden ist?«
Drik hatte etwas von der Macht der Sucht gemurmelt, dass dagegen kein Kraut gewachsen und dass es auch genetisch bedingt sei. Ein tragischer, unglücklicher Umstand, wenn solche Mittel dann im Arbeitsumfeld verfügbar seien. Als er die Frau hinausbegleitete, hatte er die starke Anwandlung gehabt, Allard zu loben – wie gut er in seiner Arbeit gewesen sei, wie schön er Cello gespielt habe. Aber er hielt den Mund.
Abends, nach etlichen Gläsern, hatte er seine schwedische Kollegin angerufen.
»Ich habe deinen weisen Rat befolgt. Der Patient hat sich umgebracht.«
Es war geraume Zeit still. Er hörte das Verrücken eines Stuhls, einen Seufzer, ein Knattern in der Leitung. Ja, ja, dachte er, das muss sie erst mal verdauen.
»Wie schlimm«, sagte sie schließlich. »Schrecklich. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du ihm nicht mehr helfen konntest. Schuldgefühle sind unangebracht. Patient und Methode passten einfach nicht zusammen.«
»Aber das hätte ich doch früher erkennen können, oder? Dieser Junge agierte nur, kroch auf den Schoß oder rannte türenschlagend davon. Über beides war nicht zu reden, zu reflektieren. Ein volles Jahr lang. Wie hartnäckig muss man als Therapeut sein?«
»Es ist so traurig, dass wir uns die Schuld geben, wenn eine Behandlung nicht anschlägt«, sagte die Kollegin. »Wenn wir Erfolg haben, führen wir das auf die Methode zurück, aber für einen Fehlschlag machen wir uns selbst verantwortlich. Denk mal darüber nach. Das ist reiner Masochismus. Den darfst du nicht zulassen.«
Während des Gesprächs hatte Drik feste weitergetrunken, lautlos schluckend und geschickt mit dem Glas, der Flasche, dem Telefonhörer jonglierend. Er erzählte, dass er sein Berufsleben beenden und sich aufs Land zurückziehen werde.
»Du agierst«, entgegnete sie. »Du begehst partiellen Selbstmord, du spiegelst deinen Patienten. Damit machst du dein Scheitern nicht ungeschehen. Das bringt ihn dir nicht zurück. Rede mit jemandem, mach eine Supervision, tu was!«
Er hatte das Gespräch abrupt beendet. Der Alkohol sorgte dafür, dass er nicht über die Bedeutung ihrer Worte nachdenken konnte. Vom Whisky benebelt, in seinen Sessel gefläzt, fühlte er sich einen Augenblick lang mit Allard verwandt, verstand für einen flüchtigen Moment den Trost der Betäubung. Ich suche ihn in diesem Nebel, dachte er verwundert, er fehlt mir.
Der Regen schlägt gegen die Scheiben. Morgen, denkt Drik, morgen fange ich mit dem Zaun an. Die Pfosten sind geliefert, der schwere Holzhammer liegt in der Tenne, nichts steht mir im Weg. Er schlurft über den klebrigen Fußboden zum Fenster und blickt auf den unordentlichen Stapel aus fünfhundert Rundhölzern, die ein Lastwagen vor ein paar Tagen auf der Wiese abgeladen hat. Stück für Stück wird er die Pfähle in den sumpfigen Boden treiben, mit gut gezielten Schlägen seines Hammers. Abends wird
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