Die Betäubung: Roman (German Edition)
1
Drik de Jong wartet.
Er wartet in seinem eigenen Wartezimmer, das eigentlich kein Zimmer ist, sondern eine Nische unter der Treppe, in die nur ein einziger Sessel passt. An der geraden Wand hängt ein Foto von einer Baumreihe in einer Polderlandschaft.
Drik de Jong wartet auf einen neuen Patienten. Will er spüren, wie es für so jemanden sein mag, hier zu sitzen und zu warten? Unwahrscheinlich. Hier sitzt so gut wie nie jemand, denn Drik legt seine Termine so, dass reichlich Zeit dazwischen ist und sich die Patienten nicht über den Weg laufen.
Die Flügeltür zu seinem Sprechzimmer steht offen, die Lampen über dem Schreibtisch und schräg hinter dem Therapeutensessel sind an, obwohl es elf Uhr vormittags ist. Er hat kurz dort Platz genommen und auf die schmuddelige Gardine vor dem bewölkten Himmel geschaut – es ist Oktober, das Licht nimmt ab. Aber nicht hier, dachte er, in dieses Zimmer gehört warmes, gelbliches Licht. Einen Vorrat Glühbirnen anlegen, jetzt, da es noch geht, die vorgeschriebenen neuen Energiesparlampen sind grässlich. Gefängnisbeleuchtung.
Er blickt auf seine Armbanduhr. In drei Minuten. Noch kurz pinkeln? Lieber nicht. Da wäschst du dir dann gerade die Hände, und hinter dir gurgelt der Spülkasten, wenn es klingelt.
Nicht nur der Patient ist vor dem Erstkontakt angespannt. Auch für den Therapeuten ist das ein kritischer Moment. Da hat so vieles gleichzeitig zu geschehen. Hinschauen, zuhören, Kontakt herstellen, sich ein Bild machen, urteilen, entscheiden, einprägen. Während man sich bestmöglich konzentriert, muss man dennoch so entspannt sein, dass man auch wirklich einen Eindruck von seinem Gegenüber gewinnen kann. Drik holt tief Luft.
Er hat mehr als ein halbes Jahr lang nicht gearbeitet. Als seine Frau ernstlich krank wurde, hatte er seine Praxis zugemacht. Zwei Analysen konnte er noch abschließen, vorzeitig und etwas zu abrupt, aber es ging. Einen dritten Analysanden überwies er an einen Kollegen, ebenso wie einige Therapiepatienten. Neue Fälle nahm er nicht mehr an. Mit einem Mal waren die Tage leer, und er kam kaum noch in sein Sprechzimmer.
Das Gartenzimmer wurde zum Schwerpunkt des Hauses. Dort lag Hanna in so einem viel zu hohen Krankenhausbett und erwartete ihren Tod. Dort tauchten Sauerstoffflaschen, Morphinpumpe, Infusionsständer auf. Dort drängten sich viele Menschen – der Hausarzt, Freunde, Krankenschwestern, ein Anästhesiepfleger aus dem Krankenhaus. Drik selbst stand mit dem Rücken an der Wand und hielt sich aus allem raus. Seine Schwester war da, Suzan.
Er hatte sie immer als die kleine Schwester gesehen, die vier Jahre Jüngere. Jetzt übernahm sie die Regie. Zu seiner Verblüffung setzte sie ihre Beurlaubung auf unbestimmte Zeit durch. Es treffe sich gut, sagte sie, sie hätten ohnehin gerade zu viele Anästhesisten auf der Abteilung, weil die Hälfte der Operationssäle umgebaut werde, da könne sie getrost eine Zeitlang wegbleiben. Sie hatte Hanna gern und wollte ihm eine Stütze sein. Sie wollte es ihrer Schwägerin ermöglichen, den ganzen traurigen Weg in ihrem eigenen Haus, mit Blick auf den Garten zurückzulegen. Gegen Ende blieb sie oft über Nacht. Auf der Analysecouch.
Nicht daran denken jetzt. Nicht an das Ende. Die Beziehung zu Suzan, das ist etwas, woran er denken kann. Sie kam ihm so nahe wie früher, aber in einer anderen, vertauschten Rolle. Auf einmal war sie die Tonangebende, und er wurde von ihr abhängig. Dabei ist es in mancher Hinsicht auch geblieben. Mindestens dreimal die Woche setzt er sich bei seiner Schwester an den Tisch und isst mit ihr, ihrem Mann Peter – der zugleich sein bester Freund ist – und manchmal auch ihrer beider Tochter Roos zu Abend. Das gefällt ihm, das ist, als sei er Teil einer Familie. Er möchte nicht, dass sich das ändert. Eine regressive Regung. Er gesteht sie sich zu.
Drik lehnt sich im Sessel zurück und lässt den Kopf an der Wand ruhen. Irgendwo draußen sitzt jetzt ein junger Mann im Auto und wartet, dass es elf Uhr wird. Vor ein paar Wochen hat Peter angerufen: »Wird es nicht allmählich Zeit, dass du wieder etwas tust? Du beteiligst dich bei unseren Intervisionsabenden immer so rege, da dachte ich mir, es wäre vielleicht gut, so langsam wieder anzufangen.«
Obwohl Drik seine Arbeit niedergelegt hatte, war er weiterhin zu den zweiwöchentlichen Intervisionstreffen gegangen. Er konnte zwar selbst keine Patienten mehr einbringen, hörte sich aber gerne an, was seine
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