Die Betäubung: Roman (German Edition)
sitzen schon ein paar Kollegen, die sich weiße Kittel über die blaue OP-Kluft gezogen haben. Auf dem Kopf tragen sie den vorgeschriebenen Haarschutz. Bei den einen sind das wenig kleidsame Duschhauben, bei anderen kecke Kappen, auf die offensichtlich Sorgfalt verwendet wurde. Einer hält die Kopfbedeckung noch in der Hand. Sie geht zu einem freien Stuhl neben Kees, einem kräftigen Mann mit Schnurrbart, der sie stürmisch begrüßt. Die Assistenten stehen um den Tisch mit dem Kaffee und tauschen sich darüber aus, bei wem sie heute eingeteilt sind. Schade, dass ich nicht im OP bin, denkt Suzan. Das wird ein langweiliger Tag. Am Schreibtisch habe ich nicht viel zu erledigen. Andere Fachärzte jammern über die Berichte, die sie schreiben müssen. Bei uns ist das anders. Wir haben keine eigenen Patienten. Das eigentliche Narkoseprotokoll wird vom Gerät selbst ausgespuckt. Unsereins braucht nie das Gefühl zu haben, dass noch eine schwere Aufgabe wartet, wenn die normale Arbeit getan ist. Was Peter und Drik dagegen erledigen müssen: Protokolle von Therapiesitzungen, Arztbriefe, Mitteilungen an Versicherer, Abschlussberichte. Grässlich. Bei uns rattert eine Seite aus dem Drucker, das ist alles, was vom Abenteuer im OP bleibt.
Das Zimmer hat sich gefüllt. Der Weiterbildungsassistent, der diese Nacht Dienst hatte, geht ans Rednerpult. Er nimmt einen Schluck Wasser aus dem Plastikbecher und wartet. Simone, Facharztkollegin und Freundin Suzans, bittet laut um Ruhe. Sie war heute Nacht die Supervisorin.
Der junge Assistent beginnt zu erzählen, springt von einem Vorfall zum nächsten. Eine Reanimation in der Notaufnahme, eine Epiduralanästhesie auf der Entbindungsstation, eine Notoperation wegen Blutungen nach einem Baucheingriff, ein komplizierter Kaiserschnitt.
»Produktiv?«, fragt ein älterer Mann mit spitzem Gesicht und Brille.
Der junge Assistent ist etwas verwirrt und blättert fahrig in seinen Unterlagen. Er kann seine Notizen zu dem Kaiserschnitt nicht gleich finden.
»Was kam raus?«
»Ach so«, sagt er, »ein Baby.«
Alle lachen, und der junge Mann wird rot.
»Gesund, ein gesundes Mädchen.«
Er fährt fort. Dem Herrn mit der Nachblutung geht es gut. Ein Patient, der über heftige Schmerzen klagte, ist mit hoher Schmerzmitteldosis und Interkostalblockade erfolgreich behandelt worden. Ein weiterer Kaiserschnitt ging weniger glücklich aus, das Baby musste beatmet werden, es sah nicht gut aus. Ein Verkehrsunfall mit zwei Verletzten. Einer konnte mit leichten Prellungen gleich wieder nach Hause, beim anderen besteht Verdacht auf eine intrathorakale Blutung. Er wartet auf die Operation. Bei einer Frau, die heute entbinden soll, muss eine Epiduralanästhesie gesetzt werden. Aufgaben für den Tagdienst.
Suzan ist mit ihren Gedanken abgeschweift und hört kaum, was der junge Assistent sagt. Ob er sich wegen der Frage nach dem Resultat des Kaiserschnitts verulkt gefühlt hat? Muss nicht unbedingt sein, die Atmosphäre in der Weiterbildung ist seit den letzten Jahren ausgesprochen angenehm. Nicht streng, sondern ernsthaft, seriös. Kollegial. Die angehenden Fachärzte dürfen wirklich etwas lernen: Fertigkeiten, Abläufe, Szenarien bei Notfällen. Sie brauchen nicht alles schon zu können und zu wissen, nur aufmerksam sollen sie sein und lernfähig. Jeder von ihnen hat einen Supervisor an seiner Seite oder kann ihn sofort hinzurufen. Jeden Tag einen anderen, so dass sie alle fachlichen Variationen zu sehen bekommen. Das kann schon mal verwirrend sein, ist aber bestimmt besser als das alte System, bei dem man wochen- oder gar monatelang an ein und denselben Anästhesisten gekoppelt war.
Ich bin heute allein, denkt Suzan. Ach Quatsch, ich bin überhaupt nicht allein, ich sehe fünfzehn Patienten, die mir die Ohren vollquasseln werden. Und am Nachmittag Unterricht vor voll besetzten Klassen. Trotzdem fühlt es sich so an.
Mit großen Schritten betritt ein Mann in leuchtend orangefarbener Sicherheitskleidung den Raum und entschuldigt sich für sein spätes Kommen. Die Abteilung ist auch für den Rettungsdienst zuständig; auf dem Dach des Krankenhauses steht der Rettungshubschrauber. Heldenhaft, denkt Suzan. Eine tolle Arbeit, bei der es wirklich darauf ankommt. Man muss improvisieren und blitzschnell überlegen können, während man auf dem Pflaster kniet, der Wind einem um die Ohren pfeift und rundherum lautes Geschrei herrscht. Bedrohlich. Trotz aller Hochachtung hat sie aber nie Anstalten gemacht, selbst
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