Die Betäubung: Roman (German Edition)
nutzlos gewordene Couch mit ihren Kissen, das wackelige Tischchen mit der Box Papiertaschentücher. Das Bücherregal mit uralten analytischen Standardwerken: Kohut und Kernberg, Karen Horney, Fenichel, ein Meter Freud, der rätselhafte Greenson. Auf den unteren Regalbrettern liegen ungeordnete Stapel kopierter Artikel, noch vom Kurs. Staubiges, teilweise eingerissenes Papier. Es sieht aus wie die Zeitungssammlung eines Messies in seiner zugemüllten Wohnung. Wenn das einer vom Sozialamt sähe, würden sie mich gleich abtransportieren lassen. Im »blauen Wagen«, wie wir früher sagten. Damit drohte ich Suzan immer, wenn sie nicht tat, was ich sagte. Warum werfe ich dieses ganze Zeug nicht weg? Ich schaue ja doch nicht mehr rein.
Die neueren Bücher, viel Psychiatrie und Neurowissenschaften, stehen zum Teil auf Regalbrettern über dem Schreibtisch. Der Tisch selbst ist leer. Alle alten Patientenakten sind in Schubladen darunter verstaut. Neue Akten gibt es nicht. Hier wird nicht geschrieben, keine Fachliteratur gelesen.
Notizblock, denkt er. Stift. Lesebrille. Er sucht die Sachen zusammen und legt sie auf das Tischchen neben seinem Sessel. Ein paar Dinge wird er notieren müssen. Er kann sich auf einmal nicht mehr auf sein Gedächtnis verlassen, sein Erinnerungsvermögen, seine Fähigkeit, alle neuen Informationen und Eindrücke rasch zu ordnen. Das erfüllt ihn mit gemischten Gefühlen, Enttäuschung, aber auch Verärgerung. Früher wusste er immer alles, konnte darauf bauen, dass er sich mühelos würde merken können, was ein Patient während der fünfzigminütigen Sitzung sagte, und alle Gegebenheiten mitsamt den dazugehörigen Gefühlen hervorzaubern würde, wenn er den Patienten wiedersah, ob das nun in der darauffolgenden Woche im Sprechzimmer war oder zehn Jahre später auf der Straße. Er wusste es einfach wieder: die Selbstmordgedanken, das schamvolle Liebesleben, der Charakter der Mutter, die Todesursache des Vaters, der gehasste kleine Bruder, das abgebrochene Studium.
Er betrachtete seine Gedächtnisleistung distanziert, von höherer Warte. Man durfte sie gar nicht näher untersuchen, dann litt die Zauberkraft. Total aufmerksam zuhören und zugleich entspannt, ja fast willenlos im Sessel lehnen, darauf kam es an. Nicht zu bemüht sein. Nicht abschweifen. Ein Widerspruch in sich. Drik weiß es und weiß es nicht. Ganz normal, denkt er, verhalt dich ganz normal, wie du es immer getan hast. Aber was ist mit dem Notizblock? Na gut, Adresse, Telefon, Alter, und dann die Hände ruhen lassen und zuhören. Wenn der Patient gegangen ist, gleich alles aufschreiben. Auf der Schreibtischplatte liegt eine dünne Staubschicht.
Drik erschrickt, als es klingelt. Ein kurzes, fast versuchsweises Klingeln und dann noch einmal, etwas länger. Betont langsamen Schrittes geht Drik den Flur hinunter. Er öffnet die Tür und streckt die Hand aus. Stellt sich vor.
Der junge Mann vor der Tür erwidert seinen Händedruck.
»Ich bin Allard Schuurman«, sagt er.
2
Während Suzan ihr Fahrrad aus dem Schuppen bugsiert, denkt sie an den Wochentag. Es ist Montag, ein Tag, den viele hassen. Für sie ganz unverständlich. Sie prüft den Reifendruck und knipst das Licht im Schuppen aus. Ist doch eher ein schöner Tag, denkt sie. Alles geht wieder los und erwacht zum Leben. Eine ganze Woche liegt vor dir, voller Ereignisse und Überraschungen. Sie bleibt kurz auf dem Gehweg stehen, knöpft ihren Mantel zu und legt ihre Tasche in den Fahrradkorb. Ihr Blick wandert nach oben, und im Licht der Straßenlaternen sieht sie, dass die Platane ihre Blätter verliert. Das Geäst zeichnet sich schwarz gegen den schmutzig grauen Himmel ab. In einer halben Stunde wird es hell, wird es richtig Montag.
Der Asphalt ist nass und dunkel. Suzan atmet die feuchte Luft tief ein. Kaum zu glauben, dass der Regen immer gerade aufgehört hat, wenn sie aufs Rad steigt! Sie schaut noch einmal zum Küchenfenster zurück und sieht schemenhaft Peter an der Spüle stehen. Psychologen fangen nicht so früh an. In der Anästhesiologie hat man allerspätestens um halb acht zur Morgenbesprechung zu erscheinen. Auch wenn man gerade Dienst in der Ambulanz hat oder seinen Schreibtischtag in Anspruch nimmt. Sie empfindet es nicht als Strafe, zeitig anfangen zu müssen. Der Tag ist dann schön lang, und es hat etwas, wenn man die Sonne aufgehen sieht, ihr voraus ist.
Nasses Laub auf dem Radweg, das saugende Geräusch der Reifen, der angenehme Widerstand der Pedale. Platz
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