Die Betäubung: Roman (German Edition)
da, ich komme! Sie beschleunigt, schwenkt in das Viertel mit den frei stehenden Häusern in weitläufigen Gärten und ordnet sich in den Verkehr auf der Durchfahrtsstraße ein. In der Ferne sieht sie schon das Krankenhaus. In den beiden obersten Stockwerken, wo sich die Operationssäle befinden, sind die Fenster erleuchtet. Unwillkürlich erhöht sie das Tempo, das Pferd wittert den Stall. Sie lacht.
Als Hanna krank wurde, hat sie, ohne lange zu überlegen, Urlaub genommen, damit sie die Pflege ihrer Schwägerin koordinieren konnte. Kein Gedanke daran, dass ihr die Arbeit fehlen würde. War auch eigentlich nicht so. Ein bisschen merkwürdig anfangs, dass sie nicht mehr um sechs aus dem Schlaf gerissen wurde. Ungewohnt, so lange mit ihrem Becher Kaffee in der Küche zu sitzen, Peter zu verabschieden und dann erst zu duschen und ihre kleinen Aufgaben anzugehen. Nach und nach wurde das Tagesprogramm voller, hektischer, unvorhersehbarer. Je näher der Tod rückte, desto länger blieb sie bei Hanna. Als wohnte sie im Haus ihres Bruders. Sie hat Besucher hereingelassen und ihnen gesagt, ob sie das Krankenzimmer betreten durften oder nicht, sie hat Kaffee gemacht, Suppe gekocht.
Sie erinnert sich, wie sie erschrak, als eines Tages, kurz nach Mittag, zu einer irgendwie toten Stunde, ihre eigene Tochter vor der Tür stand. Fast hätte sie es nicht gehört, denn Roos hatte in der Aufregung auf den Klingelknopf der Praxis gedrückt. Oder wollte sie eigentlich Drik sprechen? Suzan hatte, während sie in der Küche beschäftigt war, ein entferntes Summen gehört und war sicherheitshalber zur Tür gegangen. Da stand Roos, einen Topf weißer Narzissen in den Händen. Stumm.
Suzan bewegt im Fahren die Schultern, als wollte sie eine Last von sich abwerfen. Rollenverwirrung, Ungeschicklichkeit. Sie war als Pflegerin da, als Ärztin, und musste bei Roos’ Erscheinen unvermittelt Mutter sein, was dazu führte, dass sie beide Rollen unzulänglich ausfüllte.
»Du kannst gern zu ihr gehen«, sagte sie, »sie ist frisch gewaschen und hat was gegen die Schmerzen bekommen.« Ihre Tochter schaute sie schief an und lief den Flur hinunter Richtung Gartenzimmer, ohne ihren Mantel auszuziehen. Später kam sie aber doch kurz in die Küche, immer noch bis oben hin zugeknöpft.
»Bist du jetzt Hannas Ärztin?«
Suzan überlegte. »Nein, nicht direkt, sie hat natürlich ihren Hausarzt. Ich helfe nur. Bei den Medikamenten ist das schon praktisch. Kaffee?«
»Weißt du, wann es so weit ist, wann sie stirbt? Lasst ihr sie sterben, wenn es nicht mehr geht?«
»Das weiß ich nicht, Roos. Auf jeden Fall möchte ich nicht, dass sie Schmerzen hat oder keine Luft mehr bekommt.«
An die Arbeitsplatte gelehnt, trank Roos ihren Kaffee und schaute ihre Mutter nachdenklich an.
»Ich finde das merkwürdig. Warum ist sie nicht im Krankenhaus, sie ist doch krank?«
Neunzehn, in dem Alter dürfte man eigentlich nicht mehr so naiv sein, dachte Suzan ärgerlich. Lies doch mal was, denk doch mal nach. Gleichzeitig hatte sie Mitleid mit ihrem blassen Kind, das seine Lieblingstante verlieren würde und miterleben musste, wie der Tod sie beschlich – nicht im grässlichen Krankenhaus, das nun mal für schlimme Sachen da war, sondern einfach hier zu Hause, im Gartenzimmer. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut, sie hätte gern etwas getan, aber sie wusste nicht, was.
»Wie ist es in deiner Wohnung?«
»Geht so. Ich komme heute Abend zum Essen nach Hause. Oder bleibst du hier?«
Dankbar für die Annäherung beteuerte Suzan, dass sie zu Hause sein würde. Roos war schon wieder auf dem Weg zur Tür.
Der letzte Streckenabschnitt führt durch ein Neubaugebiet. Die Straßen sind nach Entdeckungsreisenden benannt: Tasman, Kolumbus, Cook. Es wäre doch mal nett gewesen, wenn der Stadtrat die Lage dieses Viertels berücksichtigt und die Wundermittel ihres Fachgebiets zur Namensgebung herangezogen hätte. Fentanylsteg, Propofolallee, Sevofluranplatz! Sie hätte denen gern eine Liste gemacht. Ignoranten.
Von der Fahrradgarage eilt sie zum Eingang. So früh es ist, herrscht doch bereits reger Betrieb. Vor der Tür rauchen Mitarbeiter noch rasch eine Zigarette, bevor ihr Dienst beginnt, der Pförtner sitzt auf seinem Posten, Menschen strömen in die Empfangshalle. Sie nimmt den Fahrstuhl nach oben. Umziehen muss sie sich heute nicht, die Ambulanz kann sie mit weißem Kittel über der Straßenkleidung machen. Sie strebt gleich dem Konferenzraum zu. An dem großen ovalen Tisch
Weitere Kostenlose Bücher